Die EU vergeigt den sicher geglaubten Sieg gegen die Seuche
Während US-Präsident Biden Milliardenbeträge und die Kriegswirtschaft gegen das Virus aktiviert, reden sich die Europäer ihre Fehler schön.
Die Dinge laufen an vielen Fronten sehr gut, wenn man sich die Impfstrategie ansieht, welche die Europäische Kommission vorgelegt hat“, sagte Eric Mamer, der Sprecher der Kommission, am Montag. Er hat nicht unrecht. Die Kommission hat seit Sommer umfassende Vereinbarungen mit einem halben Dutzend Hersteller von Covid-19-Impfstoffen geschlossen. Sie hat dafür gesorgt, dass die Pharmakonzerne die Staaten nicht gegeneinander ausspielen und kleineren Ländern höhere Preise oktroyieren konnten. Zudem hat sie bemerkenswert unbürokratisch 2,1 Milliarden Euro aus dem Unionsbudget dafür bereitgestellt, dass diese Hersteller ihre Produktionskapazitäten erhöhen (dazu kamen weitere 750 Millionen Euro von den Mitgliedstaaten).
Die EU hat also zweifellos einige Gefechte gegen die Pandemie gewonnen. Aber sie ist drauf und dran, den Krieg gegen sie zu verlieren. In manchen US-Teilstaaten, Kalifornien zum Beispiel, gibt es bereits Ärzte Anfang 40, die vor der dritten Jännerwoche beide Dosen bekommen haben. In vielen europäischen Ländern hingegen fängt man jetzt erst an, da und dort Intensivpersonal zu impfen.
Was läuft falsch in Europa? Wenn man es sich einfach macht, kann man natürlich die Schuld einzig in Brüssel suchen. Die Kommission hätte mehr Impfdosen bestellen müssen. Sie hätte mehr vom Spitzenreiter Pfizer/Biontech kaufen müssen. Und sie hätte höhere Preise für frühere Lieferung bieten sollen. So lauten jetzt die Ratschläge jener Spontanexperten, die noch vor einem halben Jahr kein Virus von einem Bakterium unterscheiden konnten. Dabei vergessen sie, dass es klug war, das Risiko etwaiger Fehlschläge bei der Entwicklung dieser neuartigen Arzneimittel zu streuen. Wie laut wäre das Gezeter, hätten die Forscher von Biontech auf das falsche Boten-RNS-Pferd gesetzt? Am Montag wurde dieses Risiko konkret: Merck beendete zwei erfolgversprechende Impfstoffprojekte, weil sie in eine Sackgasse führen. Und wer nun fordert, dass die Kommission höhere Preise hätte akzeptieren sollen, der möge erklären, wie sich ärmere Mitgliedstaaten die Impfung ihrer Bürger leisten sollen. Allerdings kann sich die Kommission von ihrer Verantwortung für das Impffiasko nicht freispielen. Sie hat in einem Anfall fataler Euphorie eine Führungsrolle in der Impfstrategie für sich reklamiert, die ihr weder politisch noch rechtlich zusteht. Gesundheitspolitik ist nationale Sache. Doch Präsidentin Ursula von der Leyen hat die Ankündigung jedes neuen Rahmenvertrages, den ihre Kommission mit den Herstellern vereinbart hatte, zum Anlass genommen, sich selbst als Hauptakteurin in den Vordergrund zu spielen. Wenn sie die Herrin dieses Verfahrens sein will, kann sie nicht nur das Lob einheimsen. Sie muss auch Kritik akzeptieren und, in extremis, politische Verantwortung übernehmen.
Von so einer reifen Fehlerkultur ist die Kommission ebenso weit entfernt, wie es die 27 Staats- und Regierungschefs sind. Mal um Mal vergeuden sie Zeit in Videokonferenzen ohne Entscheidungen. Der Vergleich mit den USA ist krass: Deren neuer Präsident, Joe Biden, hat gleich am zweiten Amtstag per Dekret sämtliche Ministerien seiner Regierung angewiesen, kraft kriegswirtschaftlicher Gesetze US-Unternehmen zur Herstellung von Masken, Tests und Schutzausrüstung zu verpflichten. Dazu kommen 50 Milliarden Dollar für ein Test- und 20 Milliarden Dollar für ein Impfprogramm. 100 Millionen Impfungen binnen 100 Tagen, lautet seine Devise. Er dürfte dieses Ziel erreichen.
Was hindert die EU, auch so einen positiven Impfpatriotismus zu entwickeln? Wieso macht man nicht 20 Milliarden Euro aus dem 750-MilliardenEuro-Aufbaufonds locker, um die Impfstoffproduktion anzukurbeln? Wieso verpflichtet man die Pharmakonzerne nicht, ihre Vakzine von anderen Herstellern produzieren zu lassen, wenn sie Kapazitätsprobleme haben, wie sie das behaupten? Europa rechtfertigt seine hohen Steuern und Sozialabgaben mit dem Verweis auf sein weltweit beneidetes Gesundheitswesen. Es ist drauf und dran, einen Sieg zu vergeigen, der ihm eigentlich nicht zu nehmen sein sollte. Mehr zum Thema:
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