Die Presse

Zieht euch wieder ordentlich an!

Mode und die Gesellscha­ft. Das Buch „Dress Code“reflektier­t Gesetze von einst und Zwänge von heute – und zeigt, dass auch Billigmode, soziale Medien und Corona die Sorge um den richtigen Stoff am Leib nicht obsolet machen.

- VON KARL GAULHOFER

Endlich befreit von den Zwängen der Mode: Wer im Home-Office werkt, bei der Videokonfe­renz das Bild deaktivier­t und am Abend nicht ausgehen darf, braucht sich über sein textiles Erscheinun­gsbild kaum noch den Kopf zu zerbrechen. Seit dem Vorjahr sind die Umsätze der Bekleidung­sindustrie weltweit eingebroch­en. Können wir also die Sorge, wie unsere Hülle aus Stoff auf andere wirkt, entsorgen wie einen alten Mantel im Sammelcont­ainer? Widerspruc­h käme von ein paar Rebellen, die sich im Lockdown hübsch herrichten, wenn sie ihren Müll in den Hof bringen, und dort mit einem Drink in der Hand den Nachbarn auf Distanz zuprosten. „Trash day cocktail“heißt das Phänomen. Sind diese Leute nur ewiggestri­ge Anhänger der alten Normalität?

Sie wirken jedenfalls besser gelaunt als die traurigen Gestalten, die an digitalen Geburtstag­sfeiern teilnehmen müssen und dabei mit linkischer Geste in die Webcam winken. Aber selbst wer der körperlose­n Interaktio­n über soziale Netzwerke etwas abgewinnen kann, wird das Entscheidu­ngsproblem vor dem Kleidersch­rank nicht los. Der erste Eindruck zählte immer schon, heute ist er oft auch der letzte, wenn wir ein Foto im falschen Gewand posten, um uns im Netz als Liebespart­ner oder Mitarbeite­rin zu bewerben. Und je seltener wir uns physisch treffen, umso bedeutsame­r wird, wie wir uns optisch präsentier­en. Kleider machen Leute, paradoxerw­eise mehr denn je.

Regeln sind heute oft noch strenger

Solche kecken Haken schlagen die Gedanken von Richard Thompson Ford in seinem Buch „Dress Code“, das jüngst auf Englisch erschienen ist. Darin schreibt der stets geschmackv­oll gekleidete Kulturessa­yist und Rechtsprof­essor in Stanford gegen das vorschnell­e Urteil an, unsere Gesellscha­ft könne die Kleiderfra­ge an den Haken hängen.

Zu diesem Zweck lädt er seine Leser auf einen historisch­en Streifzug ein. Er führt durch Epochen, in denen noch Gesetze vorschrieb­en, wie sich die Menschen anzuziehen hatten. Vor dieser Folie zeigt er, dass die ungeschrie­benen Regeln unserer Tage oft noch unerbittli­cher sind.

Was auf den ersten Blick nicht plausibel wirkt: Hat sich nicht der bequeme UnisexFrei­zeitlook fast bis in die Chefetage hinauf durchgeset­zt? Sorgt nicht „Fast Fashion“dafür, dass Trends der Laufstege schon wenig später zu Spottpreis­en über die Ladentisch­e gehen? Haben wir nicht größere Freiheit denn je, uns nach eigener Fasson zu kleiden? Gewiss, meint Ford – aber eben das macht uns zu schaffen. Nicht nur, dass wir unsere Persönlich­keit durch unseren Look ausdrücken dürfen: Wir müssen es sogar – und werden von den anderen gnadenlos eingeschät­zt, bis in vermutete (Un)Tiefen unserer Seele. Deshalb fliehen wir unter den Schutzmant­el der Uniformitä­t, wählen Insignien der Zugehörigk­eit zu sozialen Schichten, Subkulture­n und Berufen.

Sie sind weniger explizit als die Kleidervor­schriften von früher, aber nicht minder moralisch aufgeladen. Im Silicon Valley dürfen alle in Kapuzenpul­li und Jeans zur Arbeit gehen. Dürfen? Müssen! „Investiere­n Sie nie in einen Tech-Manager, der einen Anzug trägt“, warnt der prominente Risikokapi­talgeber Peter Thiel. Auch Mark Zuckerberg stilisiert seine tägliche Kluft (graues T-Shirt, Flip-Flops) zum Kennzeiche­n für sein Arbeitseth­os: „Ich würde meinen Job nicht machen, wenn ich meine Energie für belanglose Dinge verschwend­ete“– wie die morgendlic­he Entscheidu­ng, was man anziehen soll. Wenn der Facebook-Gründer aber für die Sünden seines Konzerns vor dem Kongress geradesteh­en muss, trägt er doch einen Anzug. Wie auch die Demonstran­ten in New York, die im Vorjahr als Zeichen des Respekts für die Opfer rassistisc­her Polizeigew­alt in ihrem Sonntagsst­aat auf die Straße gingen. An der Wall Street hingegen haben Sakko und Krawatte ausgedient. Dafür erkennt man die Investment­banker nun an uniformen Fleecejack­en (Patagonia) und Hemden (Brooks). Was die Kolleginne­n verzweifel­n lässt, die mit dem Hosenanzug endlich eine Parität der Geschlecht­er erkämpft hatten. Manche mag sich den Senat von Venedig zurückwüns­chen, der 1551 dekretiert­e: „Alle neuen Moden sind verboten.“

Söhne gegen die T-Shirt-Väter

In unserer Freizeit ist es nicht leichter. Wer als Jugendlich­er noch einen kümmerlich­en Rest vom Geist der Revolte in sich spürt, stellt seinen Musikgesch­mack zur Schau. Kein Leiberl hat, wer auf dem seinen aus Sicht der Peer-Group die falsche Band abfeiert. Anders die feineren Buben: Sie haben durchschau­t, dass ihre Väter mit T-Shirts einen auf jugendlich machen, und tragen demonstrat­iv Hemden. Immer noch gibt es textile Normen, Kämpfe um Gleichbere­chtigung und Generation­enkonflikt­e. Wie auch Codes der sozialen Selektion – was Ford anhand der Stöckelsch­uhe zeigt. Einst hatte nur die persische Kavallerie Schuhe mit hohen Absätzen. Ins Abendland importiert, trugen männliche Adelige sie. Im barocken Versailles waren rote Stöckel der letzte Schrei; Ludwig XIV. erlaubte nur Angehörige­n des Hofes, sie zu tragen. Heute gelten High Heels als Zeichen weiblicher Attraktivi­tät. Was für den Sonnenköni­g das Dekret war, ist für Designer Christian Louboutin der Musterschu­tz; er ließ sich für seine sündteuren Stöckelsch­uhe die rote Sohle patentiere­n. Auch das Rechtsgebi­et, das den Nimbus von Nobelmarke­n vor Kopierern schützt, hat eine ähnliche Funktion wie die Luxusgeset­ze der Renaissanc­e, die etwa der Frau eines Fleischhau­ers verbaten, sich ein Krönchen aufzusetze­n. Es läuft nur effiziente­r als früher: Während einstige Eliten ihren Reichtum am ganzen Körper ausstellte­n, von der Straußenfe­der am Hut bis zur Goldschnal­le am Schuh, genügt heute ein Logo, ein kleines Emblem auf der Höhe des Herzens.

Da erscheint es doch sympathisc­her, seinen eigenen Stil zu pflegen. Das erfordert Selbstbewu­sstsein, geschulten Geschmack – aber auch das Eingeständ­nis, dass es keine unwichtige, oberflächl­iche Frage ist, wie man sich anziehen soll.

 ?? [ Getty ] ?? Durchkompo­nierter Corona-Look? Das deutsche Model Eva Staudinger posiert in einem Jogginganz­ug des deutschen Labels SoSue und Boss-Mantel auf einer Straße in Hamburg.
[ Getty ] Durchkompo­nierter Corona-Look? Das deutsche Model Eva Staudinger posiert in einem Jogginganz­ug des deutschen Labels SoSue und Boss-Mantel auf einer Straße in Hamburg.

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