Zieht euch wieder ordentlich an!
Mode und die Gesellschaft. Das Buch „Dress Code“reflektiert Gesetze von einst und Zwänge von heute – und zeigt, dass auch Billigmode, soziale Medien und Corona die Sorge um den richtigen Stoff am Leib nicht obsolet machen.
Endlich befreit von den Zwängen der Mode: Wer im Home-Office werkt, bei der Videokonferenz das Bild deaktiviert und am Abend nicht ausgehen darf, braucht sich über sein textiles Erscheinungsbild kaum noch den Kopf zu zerbrechen. Seit dem Vorjahr sind die Umsätze der Bekleidungsindustrie weltweit eingebrochen. Können wir also die Sorge, wie unsere Hülle aus Stoff auf andere wirkt, entsorgen wie einen alten Mantel im Sammelcontainer? Widerspruch käme von ein paar Rebellen, die sich im Lockdown hübsch herrichten, wenn sie ihren Müll in den Hof bringen, und dort mit einem Drink in der Hand den Nachbarn auf Distanz zuprosten. „Trash day cocktail“heißt das Phänomen. Sind diese Leute nur ewiggestrige Anhänger der alten Normalität?
Sie wirken jedenfalls besser gelaunt als die traurigen Gestalten, die an digitalen Geburtstagsfeiern teilnehmen müssen und dabei mit linkischer Geste in die Webcam winken. Aber selbst wer der körperlosen Interaktion über soziale Netzwerke etwas abgewinnen kann, wird das Entscheidungsproblem vor dem Kleiderschrank nicht los. Der erste Eindruck zählte immer schon, heute ist er oft auch der letzte, wenn wir ein Foto im falschen Gewand posten, um uns im Netz als Liebespartner oder Mitarbeiterin zu bewerben. Und je seltener wir uns physisch treffen, umso bedeutsamer wird, wie wir uns optisch präsentieren. Kleider machen Leute, paradoxerweise mehr denn je.
Regeln sind heute oft noch strenger
Solche kecken Haken schlagen die Gedanken von Richard Thompson Ford in seinem Buch „Dress Code“, das jüngst auf Englisch erschienen ist. Darin schreibt der stets geschmackvoll gekleidete Kulturessayist und Rechtsprofessor in Stanford gegen das vorschnelle Urteil an, unsere Gesellschaft könne die Kleiderfrage an den Haken hängen.
Zu diesem Zweck lädt er seine Leser auf einen historischen Streifzug ein. Er führt durch Epochen, in denen noch Gesetze vorschrieben, wie sich die Menschen anzuziehen hatten. Vor dieser Folie zeigt er, dass die ungeschriebenen Regeln unserer Tage oft noch unerbittlicher sind.
Was auf den ersten Blick nicht plausibel wirkt: Hat sich nicht der bequeme UnisexFreizeitlook fast bis in die Chefetage hinauf durchgesetzt? Sorgt nicht „Fast Fashion“dafür, dass Trends der Laufstege schon wenig später zu Spottpreisen über die Ladentische gehen? Haben wir nicht größere Freiheit denn je, uns nach eigener Fasson zu kleiden? Gewiss, meint Ford – aber eben das macht uns zu schaffen. Nicht nur, dass wir unsere Persönlichkeit durch unseren Look ausdrücken dürfen: Wir müssen es sogar – und werden von den anderen gnadenlos eingeschätzt, bis in vermutete (Un)Tiefen unserer Seele. Deshalb fliehen wir unter den Schutzmantel der Uniformität, wählen Insignien der Zugehörigkeit zu sozialen Schichten, Subkulturen und Berufen.
Sie sind weniger explizit als die Kleidervorschriften von früher, aber nicht minder moralisch aufgeladen. Im Silicon Valley dürfen alle in Kapuzenpulli und Jeans zur Arbeit gehen. Dürfen? Müssen! „Investieren Sie nie in einen Tech-Manager, der einen Anzug trägt“, warnt der prominente Risikokapitalgeber Peter Thiel. Auch Mark Zuckerberg stilisiert seine tägliche Kluft (graues T-Shirt, Flip-Flops) zum Kennzeichen für sein Arbeitsethos: „Ich würde meinen Job nicht machen, wenn ich meine Energie für belanglose Dinge verschwendete“– wie die morgendliche Entscheidung, was man anziehen soll. Wenn der Facebook-Gründer aber für die Sünden seines Konzerns vor dem Kongress geradestehen muss, trägt er doch einen Anzug. Wie auch die Demonstranten in New York, die im Vorjahr als Zeichen des Respekts für die Opfer rassistischer Polizeigewalt in ihrem Sonntagsstaat auf die Straße gingen. An der Wall Street hingegen haben Sakko und Krawatte ausgedient. Dafür erkennt man die Investmentbanker nun an uniformen Fleecejacken (Patagonia) und Hemden (Brooks). Was die Kolleginnen verzweifeln lässt, die mit dem Hosenanzug endlich eine Parität der Geschlechter erkämpft hatten. Manche mag sich den Senat von Venedig zurückwünschen, der 1551 dekretierte: „Alle neuen Moden sind verboten.“
Söhne gegen die T-Shirt-Väter
In unserer Freizeit ist es nicht leichter. Wer als Jugendlicher noch einen kümmerlichen Rest vom Geist der Revolte in sich spürt, stellt seinen Musikgeschmack zur Schau. Kein Leiberl hat, wer auf dem seinen aus Sicht der Peer-Group die falsche Band abfeiert. Anders die feineren Buben: Sie haben durchschaut, dass ihre Väter mit T-Shirts einen auf jugendlich machen, und tragen demonstrativ Hemden. Immer noch gibt es textile Normen, Kämpfe um Gleichberechtigung und Generationenkonflikte. Wie auch Codes der sozialen Selektion – was Ford anhand der Stöckelschuhe zeigt. Einst hatte nur die persische Kavallerie Schuhe mit hohen Absätzen. Ins Abendland importiert, trugen männliche Adelige sie. Im barocken Versailles waren rote Stöckel der letzte Schrei; Ludwig XIV. erlaubte nur Angehörigen des Hofes, sie zu tragen. Heute gelten High Heels als Zeichen weiblicher Attraktivität. Was für den Sonnenkönig das Dekret war, ist für Designer Christian Louboutin der Musterschutz; er ließ sich für seine sündteuren Stöckelschuhe die rote Sohle patentieren. Auch das Rechtsgebiet, das den Nimbus von Nobelmarken vor Kopierern schützt, hat eine ähnliche Funktion wie die Luxusgesetze der Renaissance, die etwa der Frau eines Fleischhauers verbaten, sich ein Krönchen aufzusetzen. Es läuft nur effizienter als früher: Während einstige Eliten ihren Reichtum am ganzen Körper ausstellten, von der Straußenfeder am Hut bis zur Goldschnalle am Schuh, genügt heute ein Logo, ein kleines Emblem auf der Höhe des Herzens.
Da erscheint es doch sympathischer, seinen eigenen Stil zu pflegen. Das erfordert Selbstbewusstsein, geschulten Geschmack – aber auch das Eingeständnis, dass es keine unwichtige, oberflächliche Frage ist, wie man sich anziehen soll.