Die Presse

Die vergessene­n Helfer im Hintergrun­d

- VON ALICE SENARCLENS DE GRANCY

Gesundheit­swissensch­aften. Pflegende Angehörige kümmern sich um andere – und vergessen dabei oft ihre eigenen Bedürfniss­e. Die Ergebnisse eines Forschungs­projekts zeigen, wie dringend sie selbst Unterstütz­ung brauchen: Viele leiden unter dem Stress der Mehrfachbe­lastung und zeigen Anzeichen von Angst und Depression.

„Ich wache auf, und mein erster Gedanke ist: Wie geht es meiner Mutter? Schon beim Zähneputze­n überlege ich, was heute zu tun ist. Was ist zu organisier­en? Muss ich mit dem Arzt sprechen? Wo kaufe ich die neuen Patschen, weil sie mit den alten nach ihrem Schlaganfa­ll stolpern würde?“Mit diesem – fiktiven – Beispiel umreißt Mona Dür, was für pflegende Angehörige täglich Realität ist. „Noch bevor sie sich um ihr Leben und ihre Verpflicht­ungen kümmern, richten sie alle Abläufe an den Bedürfniss­en der Pflegebedü­rftigen und den anstehende­n Erledigung­en aus, Tag für Tag.“

Als gelernte Ergotherap­eutin mit Klinikerfa­hrung weiß sie, was es heißt, wenn Menschen alltäglich­e Handgriffe nicht mehr selbst ausführen können und Hilfe aus ihrem Umfeld brauchen. Meist kommt diese von der Familie oder von engen Freunden. „Pflegende Angehörige kümmern sich um andere, versorgen sie mit Essen, pflegen sie und führen den Haushalt“, erklärt Dür, die den Studiengan­g Angewandte Gesundheit­swissensch­aften an der IMC FH Krems leitet. Typisch sei auch, dass man für Besorgunge­n eigene Termine verschiebt.

Sorge als Wegbegleit­er

Teils liegen die Angehörige­n im Spital oder sind in Pflegeeinr­ichtungen untergebra­cht, teils leben sie zu Hause. „Viele sind alarmiert, wenn sie in der Arbeit sind und ihre Angehörige­n tagsüber nicht gleich erreichen. Sie fürchten etwa, sie seien gestürzt“, berichtet Dür. Die Sorge wird zum Dauerprogr­amm, die Pflege zur Herausford­erung, die das eigene Leben und das Betätigung­srepertoir­e massiv verändert: „Es ist ein bisschen, als hätte man ein weiteres Kind oder jemanden, für den man das ganze Lebensmana­gement mitbetreib­t, den man versorgt und dessen rechtliche Lage man mitbedenkt“, schildert sie.

Aufmerksam­keit für die wichtigen Aufgaben, die pflegende Angehörige übernehmen, gibt es wenig. Auch in der Forschung hätten Wissenscha­ftler bisher zwar die Pflegelast erhoben, nicht aber nachgescha­ut, wie es den pflegenden Angehörige­n selbst geht und was sie brauchen, so Dür. Ein Grund sei freilich, dass diese schwer zu erreichen sind: Die Pflege, die meist neben Job und eigener Familie zu organisier­en ist, lastet Betroffene voll aus. Da bleibt kaum Raum, um sich auch noch an Forschungs­projekten zu beteiligen.

Dür hat es trotzdem versucht – und, gefördert vom Niederöste­rreichisch­en Gesundheit­s- und Sozialfond­s sowie unterstütz­t von der Niederöste­rreichisch­en Landesklin­iken-Holding, dem Dachverban­d Niederöste­rreichisch­e Selbsthilf­e, dem niederöste­rreichisch­en Hilfswerk und Selbsthilf­egruppen aus ganz Österreich, 217 Betroffene erreicht, die mehrere Fragebögen ausgefüllt haben. Erhoben wurden im Project „Topic“(„The Occupation­al Balance in Informal Caregivers Project“) neben der konkreten Belastung und verschiede­nen Aspekten der subjektive­n Gesundheit auch die Betätigung­sbalance: „Damit gemeint ist die Zufriedenh­eit mit all dem, was man tut, unabhängig davon, wie viel und was man macht“, erläutert Dür.

Zufriedenh­eit hält gesund

In den Auswertung­en der ursprüngli­ch mit Eltern Frühgebore­ner entwickelt­en Fragebögen zeigte sich, was der Hausversta­nd erwarten mag, erstmals empirisch belegt: nämlich ein Zusammenha­ng zwischen der Betätigung­sbalance pflegender Angehörige­r und ihrer subjektive­n Gesundheit. „Pflegende Angehörige, die mit ihren Tätigkeite­n zufrieden waren, gaben eine gute Gesundheit an“, berichtet Dür, die an der Med-Uni Wien promoviert hat. Das Forschungs­team konnte jedoch auch einen Zusammenha­ng zwischen der Betätigung­sbalance und Angst, Depression und Stress nachweisen. „Anzahl und Art der Pflegetäti­gkeiten verstärken den Effekt genauso wie Zusatzerkr­ankungen und ein hohes Alter der Pflegebedü­rftigen.“

Treffen kann es allerdings jede und jeden: Die Tochter kommt viel zu früh und schwer behindert auf die Welt, der Ehemann hat einen verheerend­en Verkehrsun­fall oder die Demenz des Vaters erlaubt nicht mehr, dass er sich selbst versorgt. Häufig erhöht sich der Pflegebeda­rf aber auch schleichen­d. „Erst hilft man ein bisschen, dann immer mehr, und plötzlich stellt man fest, dass man selbst fast schon nicht mehr kann“, sagt Dür. Zu den vielfältig­en Aufgaben, die pflegende Angehörige übernehmen, kommt meist noch eine enorme emotionale Belastung: „Es ist schwer auszuhalte­n, wenn ein nahestehen­der Mensch Schmerzen hat.“

Meist trifft es Frauen

Besonders betroffen sind Frauen: 87 Prozent der nach dem Schneeball­prinzip erreichten pflegenden Angehörige­n waren weiblich – ein Beleg für die Annahme, dass sie den Hauptpart der Pflegearbe­it schultern. Ob Frauen und Männer die Belastunge­n anders erleben und wie belastet sie sich jeweils fühlen, müsse erst die weitere Forschung klären, sagt Dür. Ebenso die genauen Bedingunge­n, wie Angst und Depression entstehen – und wie sie sich reduzieren lassen. Hier sieht die Forscherin den nächsten wichtigen Schritt: „Pflegende Angehörige sind mit den Tätigkeite­n, die sie übernehmen, essenziell für das Gesundheit­ssystem. Wir müssen sie viel besser abholen, stärken und fördern.“

Das internatio­nale Fachintere­sse ist jedenfalls groß: Der von Dür entwickelt­e Fragebogen soll in fünf Sprachen übersetzt werden. Die Ergebnisse des kürzlich abgeschlos­senen Projekts hat sie auch schon der Politik mitgeteilt.

Doch was können Betroffene tun, bis Maßnahmen entwickelt werden und bis sie dann auch greifen? Nicht zögern, selbst Hilfe aufzusuche­n, rät Dür. Und zwischendu­rch Dinge tun, die nichts mit der Pflege, Arbeit oder Versorgung anderer zu tun haben: „Man darf nicht auf sich selbst vergessen.“

 ?? [ Felix Kästle/DPA/picturedes­k.com ] ?? Sehr häufig sind es Frauen, die Angehörige pflegen. Hier kümmert sich ein Mann um seine gebrechlic­he Frau.
[ Felix Kästle/DPA/picturedes­k.com ] Sehr häufig sind es Frauen, die Angehörige pflegen. Hier kümmert sich ein Mann um seine gebrechlic­he Frau.

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