Die vergessenen Helfer im Hintergrund
Gesundheitswissenschaften. Pflegende Angehörige kümmern sich um andere – und vergessen dabei oft ihre eigenen Bedürfnisse. Die Ergebnisse eines Forschungsprojekts zeigen, wie dringend sie selbst Unterstützung brauchen: Viele leiden unter dem Stress der Mehrfachbelastung und zeigen Anzeichen von Angst und Depression.
„Ich wache auf, und mein erster Gedanke ist: Wie geht es meiner Mutter? Schon beim Zähneputzen überlege ich, was heute zu tun ist. Was ist zu organisieren? Muss ich mit dem Arzt sprechen? Wo kaufe ich die neuen Patschen, weil sie mit den alten nach ihrem Schlaganfall stolpern würde?“Mit diesem – fiktiven – Beispiel umreißt Mona Dür, was für pflegende Angehörige täglich Realität ist. „Noch bevor sie sich um ihr Leben und ihre Verpflichtungen kümmern, richten sie alle Abläufe an den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen und den anstehenden Erledigungen aus, Tag für Tag.“
Als gelernte Ergotherapeutin mit Klinikerfahrung weiß sie, was es heißt, wenn Menschen alltägliche Handgriffe nicht mehr selbst ausführen können und Hilfe aus ihrem Umfeld brauchen. Meist kommt diese von der Familie oder von engen Freunden. „Pflegende Angehörige kümmern sich um andere, versorgen sie mit Essen, pflegen sie und führen den Haushalt“, erklärt Dür, die den Studiengang Angewandte Gesundheitswissenschaften an der IMC FH Krems leitet. Typisch sei auch, dass man für Besorgungen eigene Termine verschiebt.
Sorge als Wegbegleiter
Teils liegen die Angehörigen im Spital oder sind in Pflegeeinrichtungen untergebracht, teils leben sie zu Hause. „Viele sind alarmiert, wenn sie in der Arbeit sind und ihre Angehörigen tagsüber nicht gleich erreichen. Sie fürchten etwa, sie seien gestürzt“, berichtet Dür. Die Sorge wird zum Dauerprogramm, die Pflege zur Herausforderung, die das eigene Leben und das Betätigungsrepertoire massiv verändert: „Es ist ein bisschen, als hätte man ein weiteres Kind oder jemanden, für den man das ganze Lebensmanagement mitbetreibt, den man versorgt und dessen rechtliche Lage man mitbedenkt“, schildert sie.
Aufmerksamkeit für die wichtigen Aufgaben, die pflegende Angehörige übernehmen, gibt es wenig. Auch in der Forschung hätten Wissenschaftler bisher zwar die Pflegelast erhoben, nicht aber nachgeschaut, wie es den pflegenden Angehörigen selbst geht und was sie brauchen, so Dür. Ein Grund sei freilich, dass diese schwer zu erreichen sind: Die Pflege, die meist neben Job und eigener Familie zu organisieren ist, lastet Betroffene voll aus. Da bleibt kaum Raum, um sich auch noch an Forschungsprojekten zu beteiligen.
Dür hat es trotzdem versucht – und, gefördert vom Niederösterreichischen Gesundheits- und Sozialfonds sowie unterstützt von der Niederösterreichischen Landeskliniken-Holding, dem Dachverband Niederösterreichische Selbsthilfe, dem niederösterreichischen Hilfswerk und Selbsthilfegruppen aus ganz Österreich, 217 Betroffene erreicht, die mehrere Fragebögen ausgefüllt haben. Erhoben wurden im Project „Topic“(„The Occupational Balance in Informal Caregivers Project“) neben der konkreten Belastung und verschiedenen Aspekten der subjektiven Gesundheit auch die Betätigungsbalance: „Damit gemeint ist die Zufriedenheit mit all dem, was man tut, unabhängig davon, wie viel und was man macht“, erläutert Dür.
Zufriedenheit hält gesund
In den Auswertungen der ursprünglich mit Eltern Frühgeborener entwickelten Fragebögen zeigte sich, was der Hausverstand erwarten mag, erstmals empirisch belegt: nämlich ein Zusammenhang zwischen der Betätigungsbalance pflegender Angehöriger und ihrer subjektiven Gesundheit. „Pflegende Angehörige, die mit ihren Tätigkeiten zufrieden waren, gaben eine gute Gesundheit an“, berichtet Dür, die an der Med-Uni Wien promoviert hat. Das Forschungsteam konnte jedoch auch einen Zusammenhang zwischen der Betätigungsbalance und Angst, Depression und Stress nachweisen. „Anzahl und Art der Pflegetätigkeiten verstärken den Effekt genauso wie Zusatzerkrankungen und ein hohes Alter der Pflegebedürftigen.“
Treffen kann es allerdings jede und jeden: Die Tochter kommt viel zu früh und schwer behindert auf die Welt, der Ehemann hat einen verheerenden Verkehrsunfall oder die Demenz des Vaters erlaubt nicht mehr, dass er sich selbst versorgt. Häufig erhöht sich der Pflegebedarf aber auch schleichend. „Erst hilft man ein bisschen, dann immer mehr, und plötzlich stellt man fest, dass man selbst fast schon nicht mehr kann“, sagt Dür. Zu den vielfältigen Aufgaben, die pflegende Angehörige übernehmen, kommt meist noch eine enorme emotionale Belastung: „Es ist schwer auszuhalten, wenn ein nahestehender Mensch Schmerzen hat.“
Meist trifft es Frauen
Besonders betroffen sind Frauen: 87 Prozent der nach dem Schneeballprinzip erreichten pflegenden Angehörigen waren weiblich – ein Beleg für die Annahme, dass sie den Hauptpart der Pflegearbeit schultern. Ob Frauen und Männer die Belastungen anders erleben und wie belastet sie sich jeweils fühlen, müsse erst die weitere Forschung klären, sagt Dür. Ebenso die genauen Bedingungen, wie Angst und Depression entstehen – und wie sie sich reduzieren lassen. Hier sieht die Forscherin den nächsten wichtigen Schritt: „Pflegende Angehörige sind mit den Tätigkeiten, die sie übernehmen, essenziell für das Gesundheitssystem. Wir müssen sie viel besser abholen, stärken und fördern.“
Das internationale Fachinteresse ist jedenfalls groß: Der von Dür entwickelte Fragebogen soll in fünf Sprachen übersetzt werden. Die Ergebnisse des kürzlich abgeschlossenen Projekts hat sie auch schon der Politik mitgeteilt.
Doch was können Betroffene tun, bis Maßnahmen entwickelt werden und bis sie dann auch greifen? Nicht zögern, selbst Hilfe aufzusuchen, rät Dür. Und zwischendurch Dinge tun, die nichts mit der Pflege, Arbeit oder Versorgung anderer zu tun haben: „Man darf nicht auf sich selbst vergessen.“