Wir bleiben zu Hause
Seuchen mögen verschwinden – aber damit nicht unbedingt die Veränderungen, die sie bewirkt haben. Es ist keineswegs gesagt, dass die Konsumenten in die Restaurants, Kinos und Läden zurückströmen, wenn die Krise vorbei ist.
Die Anpassungsfähigkeit, also die Offenheit für neue Prägungen durch geänderte Verhältnisse, war und ist ein zentraler Faktor des Überlebens der Menschheit – ohne diese Gabe wären wir schon längst ausgestorben. Wahrgenommene Defekte werden kompensiert. Die Kompensation, zunächst ein Kind der Not, schafft allerdings selten etwas radikal Neues, sondern knüpft mit einer eigenen Dynamik an bestehende Optionen an. Häufig veralltäglicht sich das ehedem Außeralltägliche, das damit zwar an Farbe oder Exzentrik verliert, dafür aber an Quantität und Selbstverständlichkeit gewinnt. Änderungen im Verhalten vollziehen sich selten im fahnenschwingenden Modus einer Revolution, der gesellschaftliche Konsens, der sie stützt, etabliert sich mit unspektakulärer Langsamkeit.
Über Jahre blieb der Onlinehandel in einer Nische von mehrheitlich jugendlichen oder technikaffinen Konsumenten. Doch dann kam der Lockdown, und die Ladenschließung änderte für die meisten Sparten die Regeln des Spiels. Der virologische Imperativ schuf eine zwingende Alternative: Shopping-Abstinenz oder Internetkauf. Amazon, der Marktführer im Onlinehandel, hat im vierten Quartal 2020 seinen Umsatz um 44 Prozent auf 125,6 Mrd. Dollar gesteigert. In der Periode der geschlossenen Läden sind deren Vorzüge ein wenig in Vergessenheit geraten und viele Konsumenten haben im Netz neue Lüste entdeckt: Etwa, dass das scheinbar Assoziationen und tatsächlich Algorithmen folgende Surfen Spaß macht und öfter in bisher unentdeckte Zonen mit überraschenden Gütern führt als die vertraute Einkaufsstraße.
Die Filme des Lieblingsregisseurs, die es im stationären Handel nur in seltsamen Zusammenstellungen recht teuer gibt – mit ein wenig Geduld – und die erfordert Shoppen nun einmal –, findet man in ersten DVDAusgaben bei unbekannten Kleinhändlern um minimale Beträge. Und da wäre die Welt der Nachwuchsdesigner, die man früher immer erst wahrgenommen hat, wenn sie es in das Hochglanzmagazin geschafft haben. Selbst wer sich bloß auf Amazon beschränkt, kann seine Wünsche durchbuchstabieren – er findet sogar die prompt zugestellte Orchidee für die im Ausland lebende Schwiegermutter.
Die Verführungskraft der Auswahl und der Perfektion des Systems ist stärker als das schlechte Gewissen. Wir wissen um den Umgang Amazons mit den Mitarbeitern und den angeschlossenen Kleinhändlern, um den Umstand, dass die Mehrwertsteuer nicht Österreich zufällt, und schließlich um die generell perfekte Steuervermeidungspolitik des Konzerns. Und so ertappen wir selbst strenge Kritiker dabei, wie sie ihre süchtig machende Erstbestellung mailen. Wären wir in der politischen Zone, würde es wohl heißen: Online-Shopping ist in der Mitte der Gesellschaft angelangt.
Pizza bestellen hat gewisse Tradition
So läuft es auch in anderen Konsumbereichen: dass eine Pizza oder „etwas vom Inder“telefonisch bestellt wird, hat eine gewisse Tradition, doch niemand hätte das als Surrogat eines gemeinsamen Restaurantbesuchs betrachtet. Als Hoffnungsinvest agieren Firmen wie Just Eat, Lieferando, Delivery Hero oder Mjam schon länger europaweit unter verschiedenen Namen. Nach einer langen Durststrecke hat sich die Hoffnung im Corona-Jahr bezahlt gemacht: Lieferando etwa hat in den ersten sechs Monaten von 2020 seinen Umsatz um ein Drittel auf 257 Millionen Bestellungen erhöht, Mjam hat seine Bestellungen verdoppelt.
Diese breite Palette von Essenszustellern und die dazu kommenden Take-AwayAnbote haben nur scheinbar das rituelle Element eines Restaurantbesuchs ausgeschaltet. Restaurants verpflichten, was Kleidung und Verhalten betrifft. Das Essen im eigenen Heim bietet einen größeren Spielraum – vom selbst gestalteten festlichen Candlelight-Diner bis hin zur formlos-bequem eingenommenen Mahlzeit. Und schließlich können wir die Getränke im Supermarkt besorgen. Die Ökonomen sprechen von einer durch die Existenzangst stimulierten gesteigerten Sparquote – das mag stimmen. Aber man möge dabei nicht vergessen: Ein durchschnittliches Konsumentenleben ist billiger, wenn man sich online versorgt und nicht im stationären Handel.
Die Zahl der Bestellungen sagt natürlich noch wenig aus, die häufig gestellte Frage nach den Bestellern, ihrem sozialen Milieu und ihrer Altersgruppe ist derzeit nicht zu beantworten. Doch generell – und dafür sprechen auch der Boom der Baumärkte und des Internetmöbelhandels – scheint in einigen sozialen Milieus das schon totgesagte Cocooning, der Rückzug ins häusliche Privatleben, eine Neuauflage zu erleben. Die Bedeutung des eigenen Heims als Stätte der Nahrungsaufnahme wird auch durchs Homeoffice gehoben: Der gestiegene Umsatz der Supermärkte an kulinarischen Rohmaterialien und die immer variantenreicher werdende Tiefkühlkost lassen darauf schließen, dass sich die Zahl der häuslich gekochten und verzehrten Mahlzeiten vervielfacht hat – das selbstbestimmte Kochen ermöglicht eine „Sorge um sich selbst“und um die Natur, die beim Restaurantbesuch schwer organisierbar ist.
Gestützt wird dieser Rückzug aufs Cosy Home durch die Schließung der Kinos. Video-Streaming-Dienste existieren seit Jahren, zunächst hatten sie für die meisten User hauptsächlich die Funktion eines digitalen Speichers der Filmgeschichte. Allmählich begann sich eine kompetitive Anbieterstruktur herauszubilden, die mit qualitativ teilweise hochwertigen Serien das Publikum anlockte. Wie in den Anfangsjahren des Fernsehens entwickelten Serien eine große Bindungskraft, die Sperrung der Kinos bewirkte, dass in den Zeitungen kaum mehr Filme rezensiert wurden und die öffentliche Aufmerksamkeit noch mehr auf die Serien überging. Auch hier hat die Kompensation an schon vorhandene Optionen angeknüpft: Im Lockdown begannen die Produzenten notgedrungen ihre Filme entweder einzulagern oder sie via Streaming dem Publikum anzubieten.
Was dem Film geblieben ist, ist die nostalgische Erinnerung an den Kinobesuch als
Gemeinschaftserlebnis. Aber kann sich das nach Corona nicht auch in Wohnungen verlagern? Sind die Einbußen nicht auch hier kompensierbar? Flatscreen und Soundbox bieten ja auch in anderen Bereichen eine vielfältige kulturelle Partizipation – man kann entspannt streamen, jederzeit eine Pause machen, wenn einem danach ist und etwa bei Opernaufführungen anstelle von Gemeinschaft und Ritual das Acting der gerade angesagten Sängerin in Großaufnahme genießen. Ein Privileg, das in Opernhäusern den Happy Few vorbehalten bleibt.
All das sind Fortsetzungen von Trends, die schon lange existierten, denen mancher schon vor Jahren eine glorreiche Zukunft prophezeite und in denen die ambivalent bewerteten Phänomene der Digitalisierung und der Globalisierung eine ermöglichende Rolle spielten. Sie sind uns zunächst von den Umständen aufgedrängt worden und wirkten wie ein unbefriedigendes Surrogat. Doch sie haben sich in den letzen Monaten festgesetzt, und aus der Kompensation ist ein alltagskulturelles Verhalten entstanden, das seine eigenen Lüste in sich trägt. Die Antwort auf die Frage, ob dieses mittlerweile selbstverständliche Verhalten nachhaltig ist, wird einen gestaltenden Einfluss auf die Zeit nach Corona haben. Keine Wirtschaftsordnung kann gegen das von den Konsumenten bevorzugte „Was“und „Wie“des Konsums überleben, und so gilt auch hier der viel zitierte Satz, dass die Seuche uns unsere Zukunft zeige.
Der „homo lockdowniensis“
Der Diskurs wird von Wunsch und Spekulation dominiert. Die Vorstellung einer „Rückkehr zur Normalität“, die tatsächlich die Veränderungen des letzten Jahres ignoriert, ist naiv. Sicherlich: Für die Entwicklung eines speziellen „homo lockdowniensis“war die Zeit nicht ausreichend, die Verhaltensmuster sind noch nicht eingeprägt. Doch viele reden sich die Periode Post Coronam, von der wir nicht wissen, wann und unter welchen sonstigen Randbedingungen sie beginnen wird, schön: Die beschriebenen Veränderungen seien doch nur begleitende Episoden einer demnächst endenden schlimmen Zeit. Danach würden die Massen, von der Impfung aus ihrem Dornröschenschlaf wachgeküsst, glücklich die Gewohnheiten des Februars 2020 wiederaufnehmen und in die urbanen Einkaufsstraßen, die vorstädtischen Einkaufszentren, die ländlichen Outlets – nur im stationären Handel könne sich unser wahres Wesen als Jäger und Sammler ausdrücken –, in die Kinos und in die Restaurants zurückkehren. Der Online-Kauf sei eben nur eine aufgezwungene „zweite Wahl“.
Die andere spekulative Position schreibt das extreme Wachstum des vergangenen Jahres mechanisch fort und sieht eine schnelle Transformation unserer Konsumwelt. Zwar gibt es Altersgruppen, die in einer formenden Lebensperiode bruchlos mit den neuen Gewohnheiten groß geworden sind und die wirtschaftlich immer stärker werden, doch unter ihnen finden wir auch viele, die den alten Konsumgewohnheiten nachtrauern. Und gewisse Milieus und Altersgruppen, die gegen Amazon, Lieferando und Streaming mit gutem Grund resistent sind, werden noch lange nicht aufhören, eine wichtige Rolle als Konsumenten zu spielen. Auch hier werden Produzenten und der Handel auf Sicht fahren müssen – im Wissen, dass es in diesem Spiel Gewinner und Verlierer gibt.