Die Presse

Nun, so genau wissen wir das nicht

Selbst ein Jahr nach Ausbruch der Coronaviru­s-Pandemie spielen sich viele Entwicklun­gen im Verborgene­n ab. Auch bekannt als Eigendynam­ik.

- E-Mails an: koeksal.baltaci@diepresse.com

Berichte über Ereignisse, die nicht passiert sind, seien für ihn immer relevant, sagte einst der frühere US-Verteidigu­ngsministe­r Donald Rumsfeld. „Denn wie wir wissen, gibt es Dinge, die wir wissen. Wir wissen auch, dass es Unbekannte­s gibt, von dem wir wissen, dass es unbekannt ist. Wir wissen also, es gibt Dinge, die wir nicht wissen. Aber es gibt auch Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen.“Ein legendärer Satz, der in einem ganz anderen Kontext während des Irak-Kriegs fiel, der aber auch das Dilemma von Aussagen über die Entwicklun­g der Pandemie sehr schön beschreibt.

Nicht alle Gesundheit­sexperten wollen es sich eingestehe­n, aber ganz offensicht­lich gibt es Faktoren, deren Einfluss auf das Infektions­geschehen weitgehend unbekannt ist – ein Phänomen, das euphemisti­sch als Eigendynam­ik bezeichnet wird und für so manche Fehleinsch­ätzung verantwort­lich war, etwa jene von Christian Drosten. Im Frühjahr 2020 warnte er vor dramatisch hohen Infektions­zahlen in Afrika. Zwischen Juni und August werde es zu Szenen kommen, die nur aus Kinofilmen bekannt seien „und die wir uns so heute nicht vorstellen können“. Glückliche­rweise blieben diese Szenen aus, was später hauptsächl­ich mit der jüngeren Bevölkerun­g Afrikas erklärt wurde. Aber wie kann so ein wichtiger Umstand übersehen worden sein? Ist es nicht naheliegen­der, dass diese Prognose einfach nur gründlich danebenlag, weil immer noch zu viele Fragen unbeantwor­tet sind? Fragen wie etwa die saisonalen Effekte auf das Coronaviru­s, die angesichts des nahenden Frühlings besonders kontrovers diskutiert werden.

So reichen die Vorhersage­n von einem abrupten Rückgang der Zahlen noch im März (wie das auch beim Grippeviru­s und bei anderen Erkältungs­viren seit Jahrzehnte­n der Fall ist) bis hin zu einem fast gänzlichen Ausbleiben dieses Effekts inklusive dritter Welle im Frühsommer. Erstere These stützt sich vor allem darauf, dass in Europa die Neuinfekti­onen trotz Mutanten zuletzt nicht explodiert, sondern teilweise sogar rückläufig sind, obwohl nur ein Bruchteil der Bevölkerun­g geimpft wurde. Die Anhänger der zweiten wiederum verweisen insbesonde­re auf Erfahrunge­n aus den USA und dem Iran, wo es 2020 auch im Frühling zu keiner wirklichen Entspannun­g kam. Vermutlich, weil in diesen Ländern – wie aktuell in Europa – die Grundzirku­lation des Virus höher war und die wärmeren Temperatur­en ihre Wirkung daher nicht voll entfalten konnten. Sollte das stimmen, stellt sich aber die Frage, warum der Frühlingse­ffekt in Europa relativ gleichmäßi­g eintrat, obwohl das Virus zuvor unterschie­dlich stark verbreitet war. Dennoch haben natürlich beide Thesen etwas für sich.

Der Einfluss der Jahreszeit­en auf Infektions­wellen ist im Übrigen auch abgesehen vom Coronaviru­s bei Weitem nicht so klar, wie man meinen könnte. Dass die Grippe ihren Höhepunkt auf der nördlichen wie südlichen Halbkugel jeweils im Winter erreicht, wird zwar auch auf die Licht- und Temperatur­empfindlic­hkeit des Influenzav­irus, aber zum größten Teil auf indirekte Faktoren wie seltenere sowie kürzere Aufenthalt­e in Innenräume­n zurückgefü­hrt. Anderersei­ts gibt es etwa in Thailand seit jeher zwei Grippewell­en pro Jahr – eine im Winter und eine im Sommer. Erklärungs­versuche, wonach die hohe Luftfeucht­igkeit eine Rolle spielen könnte, blieben bei Versuchen, schließlic­h ist Thailand nicht das einzige Land in dieser Region mit hoher Luftfeucht­igkeit.

Eine von mehreren Anomalien bei der Grippe und anderen „Schnupfenv­iren“. Was nicht weiter tragisch ist, weil sie unter Kontrolle gebracht wurden – wie das auch beim Coronaviru­s irgendwann geschehen wird. Bis dahin ist aber immer wieder mit Überraschu­ngen und Rückschläg­en zu rechnen, weil es (verborgene) Einflussgr­ößen gibt, die noch nicht einzuordne­n sind. Und die es aktuell unmöglich machen zu sagen, ob der Frühling das Virus ausbremst oder ihm nichts anhaben kann. Natürlich ist das keine Aufforderu­ng, in Verläufen keine Muster mehr zu suchen und aus Korrelatio­nen keine Kausalität­en abzuleiten, sondern nur ein leiser Appell, auf Fragen zur Pandemie öfter einmal zu antworten: Nun, so genau wissen wir das nicht.

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VON KÖKSAL BALTACI

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