In Wien Detroit suchen und finden
Fotografie. Zwei Ausstellungen erzählen von den neuen Blicken, mit denen Wien in der Pandemiezeit wahrgenommen wird. Von einem Architekturkritiker mit Fernweh. Und einem Porträtisten mit Sehnsucht nach dem Urbanen.
Am 16. März jährt sich erstmals der Beginn des ersten Lockdowns – wie anders hat dieser sich angefühlt als die folgenden. Es ist von allen Kunstformen naturgemäß die Fotografie, die als schnellste auf diese Umstände reagierte, reagieren konnte. Der Schwall an Corona-Malerei, Corona-Romanen, Corona-Theaterstücken, Corona-Kompositionen wird uns wohl noch ereilen. Die Foto-Ausstellungen sind schon da, sagte der Igel zum Hasen.
Am Bauzaun des Wien-Museums am Karlsplatz etwa, der von dem wegen Umbaus geschlossenen Haus kurzerhand zur Ausstellungsfläche erklärt wurde. Zu sehen ist hier Foto-Ausstellung Nummer zwei, angesichts deren noch gesteigerter Kleinteiligkeit man jetzt wohl endgültig kapitulieren sollte – die Ästhetik der Wandzeitung war sowieso unterschätzt. So weit die erste Anmutung. Tritt man näher, ganz nahe, steht man dafür vor der kleinen, feinen Gemme eines Ausstellungskonzepts.
„Almost“heißt die bezaubernde Fotoserie, die der Langeweile entsprungen ist, die den jetsettenden Wiener Architekturkritiker Wojciech Czaja mit Beginn der Pandemie ereilte. 50, 60 Reisen absolviere er sonst im Jahr, erzählt er, plötzlich saß er zu Hause. Bis er bei seinen Ausflügen auf der Vespa begann, die gewohnten Routen zu verlassen, und sein Blick sich änderte. Vielleicht war der große Wunsch Vater des Gedankens, aber plötzlich wähnte Czaja sich in Berlin Tiergarten (Liebenberg-Denkmal gegenüber der Universität), am Petersplatz in Rom (Bögen hinter dem Schwarzenberg-Brunnen), in Nashville, Tennessee (Hernalser Halirschgasse) oder sogar in Asuncion,´ Paraguay (Meidlinger Pfarrkirche).
Klingt sehr fantasievoll, selbst für einen Architekturkritiker, aber extreme Ausschnitte mit der Handykamera machen es völlig einleuchtend. Die ironischen Weite-WeltAssoziationen teilte Czaja bald mit genau dieser, nämlich auf seinem Facebook-Account. Die dort hervorgerufene Begeisterung ließ die Fotos bald zum Bildband (Konnex-Verlag) und schließlich zur Wand-Ausstellung werden. Es war die Idee von Peter Stuiber, Kurator am Wien-Museum, sie mit einer historischen Ebene zu hinterlegen: Souvenir-Aufnahmen des Geländes der Wiener Weltausstellung im Prater 1873, wo die Besucher sich damals durch 200 provisorische Gebäude vom türkischen Brunnen bis zum Wigwam bewegen konnten wie in einer Art Maxi-Minimundus. Ohne Klischees lässt sich eben im Kopf die Welt nicht umrunden, damals wie heute. Manche hat Czaja übrigens tatsächlich noch nicht gefunden in Wien, auch nach über 500 solcher Schnappschüsse und einjähriger Nahreisetätigkeit nicht – Miami etwa. Santa Fe, Kairo oder Lagos. „Falls jemand Hinweise hat“, so Czaja.
Wäre eine solche Serie auch in Paris oder London vorstellbar? Vielleicht, meint er, aber Wien sei schon speziell in seiner architektonischen Vielfalt, was wohl auf dem großen kulturellen Austausch als Hauptstadt der Monarchie beruhe.
Ausbruch aus der Porträt-Schiene
Ähnlich kam es zur ersten Wien-Serie von Lukas Beck, aber mit ganz anderem Ausgang – zu sehen in der Galerie Lukas Feichtner, sonst nicht unbedingt auf Fotografie spezialisiert. Doch Beck, einer der renommiertesten Porträtisten der Wiener Musikund Theaterszene, sei ein Freund, so Feichtner, und „Wien pur“eine Art Ausbruch aus diesem Renommee, wie bei Czaja angestoßen durch den ersten Lockdown. Von einem Tag auf den anderen waren seine Kunden jedenfalls weg, erinnert sich Beck. Also war Zeit zu tun, was er schon lang tun wollte – ein Porträt seiner Stadt anfertigen. Statt mit der Vespa wurde hier mit dem Fahrrad beziehungsweise zu Fuß ausgerückt, systematisch, von den Außenbezirken in die Innere Stadt. Trotzdem war (noch) nicht das leichte Smartphone Mittel der Wahl (damit experimentiere er zurzeit gerade), sondern noch die teure Hasselblad.
Gefolgt ist Beck weniger einem inhaltlichen Konzept als einem für ihn formalen Experiment – bevorzugt er doch sonst Gegenoder Kunstlicht, wohl um die Kostbarkeit kostbarer Künstler-Charaktere notfalls noch kostbarer zu machen. Pralle Sonne aber mied er bisher, sie ist dem Geheimnisvollen oft auch tatsächlich nicht so zuträglich. Ästhetisch ist „Wien pur“jedenfalls das, was der Titel verspricht. Man sieht Beck in StreetPhotography-Tradition auf den richtigen Moment im Zufall warten – bis der Bub auf dem Fahrrad am Maria-Theresien-Platz sich tatsächlich genau vor ihm aufbaut. Sich unter der Anker-Uhr ein Paar küsst. Oder die Wolken über der verlassenen Fabrik, auf der „Rauchen verboten“steht, so aufziehen, als würden die Schlote noch in Betrieb stehen.
Schön ist, dass Beck nicht die menschenleere Corona-Version der Stadt strapaziert hat. Sondern die Menschen suchte. Was wie Normalbetrieb aussieht. Oder? Oder spricht aus dieser Wahrnehmung die „neue“Normalität? So wird auch „Wien pur“ein bisschen ungemütlicher.