Ein Festival zwischen den Stühlen
Berlinale. Ab heute dürfen Branche und Presse (Wettbewerbs-)Filme im Netz sichten, das Publikum muss bis Juni warten. Ein Kompromiss-Konzept als Konzession an den Markt.
Dass alles muss, aber wenig geht, führt auch im Filmfestival-Kontext zu innerer Zerrissenheit. Besonders deutlich veranschaulicht das aktuell jene Veranstaltung, die voriges Jahr gerade noch ungeschoren davonkam: Die Berlinale, eines der drei ranghöchsten Filmevents Europas, hat sich buchstäblich zweigeteilt, um nicht abzuwarten oder auszusetzen. Ohne Corona wäre der Potsdamer Platz im Februar mit roten Teppichen überrollt und von internationalen Cineastenmassen besetzt worden. Im Lockdown sieht die Sache anders aus: Heute startet ein sogenanntes Industry Event, das ausschließlich Branchen- und Medienvertretern offen steht – und zwar online.
In dieser Blase läuft auch der abgespeckte Wettbewerb, bereits am 5. März wird eine Jury aus rezenten Goldbärengewinnern die Preisträger verkünden. Doch der Ruf als Publikumsfestival will gewahrt werden. Daher haben die Intendanten Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek ein „Summer Special“für Juni avisiert. Nachträglich soll das Berlinale-Programm in den Kinos der Stadt zur Aufführung kommen, mit Starpräsenz und Tamtam, aber ohne Privilegierung von Akkreditierten. Falls die Pandemie mitspielt.
Sofern man diese Spaltung als Außenstehender überhaupt registriert, fragt man sich vielleicht: Warum nicht gleich alles in den Sommer verlegen? Der Grund liegt in der Doppelnatur vieler A-Festivals. Während im Vordergrund der Kunst gehuldigt wird, wuseln im Hintergrund die Filmmärkte, die sich als Grundpfeiler der globalen Laufbildökonomie etabliert haben – und auch unter viralem Verschluss bespielt werden wollen.
„Optimismus der Branche ist spürbar“
Der European Film Market der Berlinale zählt hier zu den Platzhirschen und ist terminlich auf Veranstaltungen wie den Marche´ du film in Cannes abgestimmt. Sein zeitgerechtes Stattfinden ist quasi systemrelevant. Zumal sich einiges aufgestaut hat, wie Christine Dollhofer, Leiterin des (ebenfalls für Juni angedachten) Crossing-Europe-Festivals in Linz, im „Presse“-Gespräch erklärt: „Ich habe das Gefühl, dass das Angebot viel größer ist als letztes Jahr. Der Optimismus der Branche ist spürbar. Viele Filme, die vor oder während Corona fertiggestellt wurden und lang auf bessere Zeiten warteten, werden jetzt langsam in Umlauf gebracht.“
Das virtuelle Bärenrennen soll den präsentierten Arbeiten jene Aufmerksamkeit verschaffen, die das offizielle „Gütesiegel“, mit denen Cannes seine 2020 verhinderten Wettbewerbsbeiträge versah, nicht gewährleisten konnte. Dass die Öffentlichkeit nicht schon im März mitschauen darf, liegt indes an Bedenken von Rechteinhabern – und der Standort-Verpflichtung des Festivals: „Die Berlinale bedeutet für viele Beschäftigung. Zudem geht es um einen cinephilen Gedanken: Filme gehören ins Kino und nicht auf eine Online-Plattform“, so Dollhofer.
In fünf Tagen unterzubringen, wofür man sonst zwei Wochen Zeit hat, ist freilich weder für Medien- noch für Branchenvertreter kommod. Zumal jegliche Atmosphäre fehlt: Pressekonferenzen finden nicht statt, die physische Preisverleihung erst im Sommer. Wie gefühlt alles heutzutage ist also auch die 71. Berlinale ein Testlauf.
Wobei das Programm durchaus mit prominenten Titeln aufwartet: Die französische Regie-Aufsteigerin Celine´ Sciamma („Porträt einer jungen Frau in Flammen“) zeigt ihr jüngstes Werk „Petite Maman“, Daniel Brühl sein Regiedebüt „Nebenan“. Maria Schrader („Vor der Morgenröte“) ist mit der Roboterliebesgeschichte „Ich bin dein Mensch“vertreten. Tom Schilling gibt die Hauptfigur in Dominik Grafs Erich-KästnerVerfilmung „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“– und in David Schalkos neuer Serie „Ich und die Anderen“, die in einer Spezialsektion uraufgeführt wird. Namen wie Hong Sang-soo, Radu Jude, Ryusuke Hamaguchi lassen Kunstkinokenner aufhorchen. Auffällig abwesend sind die USA: Hollywood hofft weiterhin auf echten Premierenrummel.