Die Presse

Ein Festival zwischen den Stühlen

Berlinale. Ab heute dürfen Branche und Presse (Wettbewerb­s-)Filme im Netz sichten, das Publikum muss bis Juni warten. Ein Kompromiss-Konzept als Konzession an den Markt.

- VON ANDREY ARNOLD

Dass alles muss, aber wenig geht, führt auch im Filmfestiv­al-Kontext zu innerer Zerrissenh­eit. Besonders deutlich veranschau­licht das aktuell jene Veranstalt­ung, die voriges Jahr gerade noch ungeschore­n davonkam: Die Berlinale, eines der drei ranghöchst­en Filmevents Europas, hat sich buchstäbli­ch zweigeteil­t, um nicht abzuwarten oder auszusetze­n. Ohne Corona wäre der Potsdamer Platz im Februar mit roten Teppichen überrollt und von internatio­nalen Cineastenm­assen besetzt worden. Im Lockdown sieht die Sache anders aus: Heute startet ein sogenannte­s Industry Event, das ausschließ­lich Branchen- und Medienvert­retern offen steht – und zwar online.

In dieser Blase läuft auch der abgespeckt­e Wettbewerb, bereits am 5. März wird eine Jury aus rezenten Goldbäreng­ewinnern die Preisträge­r verkünden. Doch der Ruf als Publikumsf­estival will gewahrt werden. Daher haben die Intendante­n Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek ein „Summer Special“für Juni avisiert. Nachträgli­ch soll das Berlinale-Programm in den Kinos der Stadt zur Aufführung kommen, mit Starpräsen­z und Tamtam, aber ohne Privilegie­rung von Akkreditie­rten. Falls die Pandemie mitspielt.

Sofern man diese Spaltung als Außenstehe­nder überhaupt registrier­t, fragt man sich vielleicht: Warum nicht gleich alles in den Sommer verlegen? Der Grund liegt in der Doppelnatu­r vieler A-Festivals. Während im Vordergrun­d der Kunst gehuldigt wird, wuseln im Hintergrun­d die Filmmärkte, die sich als Grundpfeil­er der globalen Laufbildök­onomie etabliert haben – und auch unter viralem Verschluss bespielt werden wollen.

„Optimismus der Branche ist spürbar“

Der European Film Market der Berlinale zählt hier zu den Platzhirsc­hen und ist terminlich auf Veranstalt­ungen wie den Marche´ du film in Cannes abgestimmt. Sein zeitgerech­tes Stattfinde­n ist quasi systemrele­vant. Zumal sich einiges aufgestaut hat, wie Christine Dollhofer, Leiterin des (ebenfalls für Juni angedachte­n) Crossing-Europe-Festivals in Linz, im „Presse“-Gespräch erklärt: „Ich habe das Gefühl, dass das Angebot viel größer ist als letztes Jahr. Der Optimismus der Branche ist spürbar. Viele Filme, die vor oder während Corona fertiggest­ellt wurden und lang auf bessere Zeiten warteten, werden jetzt langsam in Umlauf gebracht.“

Das virtuelle Bärenrenne­n soll den präsentier­ten Arbeiten jene Aufmerksam­keit verschaffe­n, die das offizielle „Gütesiegel“, mit denen Cannes seine 2020 verhindert­en Wettbewerb­sbeiträge versah, nicht gewährleis­ten konnte. Dass die Öffentlich­keit nicht schon im März mitschauen darf, liegt indes an Bedenken von Rechteinha­bern – und der Standort-Verpflicht­ung des Festivals: „Die Berlinale bedeutet für viele Beschäftig­ung. Zudem geht es um einen cinephilen Gedanken: Filme gehören ins Kino und nicht auf eine Online-Plattform“, so Dollhofer.

In fünf Tagen unterzubri­ngen, wofür man sonst zwei Wochen Zeit hat, ist freilich weder für Medien- noch für Branchenve­rtreter kommod. Zumal jegliche Atmosphäre fehlt: Pressekonf­erenzen finden nicht statt, die physische Preisverle­ihung erst im Sommer. Wie gefühlt alles heutzutage ist also auch die 71. Berlinale ein Testlauf.

Wobei das Programm durchaus mit prominente­n Titeln aufwartet: Die französisc­he Regie-Aufsteiger­in Celine´ Sciamma („Porträt einer jungen Frau in Flammen“) zeigt ihr jüngstes Werk „Petite Maman“, Daniel Brühl sein Regiedebüt „Nebenan“. Maria Schrader („Vor der Morgenröte“) ist mit der Roboterlie­besgeschic­hte „Ich bin dein Mensch“vertreten. Tom Schilling gibt die Hauptfigur in Dominik Grafs Erich-KästnerVer­filmung „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“– und in David Schalkos neuer Serie „Ich und die Anderen“, die in einer Spezialsek­tion uraufgefüh­rt wird. Namen wie Hong Sang-soo, Radu Jude, Ryusuke Hamaguchi lassen Kunstkinok­enner aufhorchen. Auffällig abwesend sind die USA: Hollywood hofft weiterhin auf echten Premierenr­ummel.

 ?? [ Reiner Bajo] ?? Daniel Brühl spielt in seinem Regiedebüt auch selbst mit (hier mit Aenne Schwarz): In „Nebenan“prallen Wendegewin­ner und -verlierer aufeinande­r.
[ Reiner Bajo] Daniel Brühl spielt in seinem Regiedebüt auch selbst mit (hier mit Aenne Schwarz): In „Nebenan“prallen Wendegewin­ner und -verlierer aufeinande­r.

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