Die Presse

Die Schwachste­llen der chinesisch­en KP-Diktatur

China protzt und lässt militärisc­he Muskeln spielen. Doch hinter seinen Glitzerfas­saden verbirgt sich eine andere Realität.

- VON BURKHARD BISCHOF

Während die Wirtschaft aller anderen größeren Mächte im Pandemieja­hr 2020 schrumpfte, wuchs die Wirtschaft der Volksrepub­lik erneut um 2,3 Prozent. Kein Wunder, dass Chinas starker Mann Xi Jinping in einer Rede vor hohen Staats- und Provinzfun­ktionären Anfang des Jahres vor Selbstvert­rauen strotzte: „Die Welt durchlebt die fundamenta­lsten Veränderun­gen seit einem Jahrhunder­t, aber die Zeit und die Situation arbeiten für uns. Daraus schöpfen wir unsere Entschloss­enheit und unsere Zuversicht.“

Entschloss­enheit, um was zu tun? Die Vereinigte­n Staaten als stärkste wirtschaft­liche und militärisc­he Globalmach­t abzulösen und danach die ganze Welt nach der Pfeife der Kommunisti­schen Partei Chinas tanzen zu lassen? Vieles deutet darauf hin, dass Xi Jinping in seiner Außenpolit­ik genau diese Agenda verfolgt.

Schon seit der Finanzkris­e 2008 sind die Machthaber in Peking davon überzeugt, dass sich die USA im Niedergang befinden. Westliche Linksintel­lektuelle haben sie in dieser Überzeugun­g ebenso bestärkt wie die erratische Präsidents­chaft von Donald Trump, der durch seine Außenpolit­ik den Status der Weltmacht USA schwer geschädigt hat. Wobei ironischer­weise die härtere Politik gegenüber der Volksrepub­lik noch zu den größeren außenpolit­ischen Errungensc­haften der Trump-Ära gehörte.

Nur war eine 180-Grad-Wende in der amerikanis­chen China-Politik seit dem Amtsantrit­t Xi Jinpings 2012 praktisch unausweich­lich geworden. Hatten die USA seit den 1990er-Jahren die Öffnung der Volksrepub­lik mit Investitio­nen und Handelserl­eichterung­en nach Kräften gefördert und so seinen „friedliche­n Aufstieg“unterstütz­t, weht seit Xis Einschwenk­en auf eine aggressive Außen- und Sicherheit­spolitik ein anderer Wind. Die amerikanis­che Elite ist in ihrer Mehrheit überaus China-kritisch geworden. Und spiegelbil­dlich zu den Untergangs­prognosen der chinesisch­en Herrschaft­selite für die USA häufen sich Analysen von amerikanis­chen China-Beobachter­n und Denkfabrik­en, die China unter Xi Jinping eine düstere Zukunft vorhersage­n.

Da mag schon auch viel Wunschdenk­en mitspielen. Doch wer die Realität der Volksrepub­lik abseits ihrer Glitzermet­ropolen und Hochgeschw­indigkeits­züge, abseits des totalen Überwachun­gsstaats und einer scheinbar disziplini­erten Gesellscha­ft genauer betrachtet, kann erkennen, dass China hinter der Fassade der Stabilität eine Reihe von inneren Schwachpun­kten hat, die dem

kommunisti­schen Regime mittelund langfristi­g gefährlich werden könnten. Die markantest­en sind:

► Krise des ländlichen Raums: Auch wenn Xi Jinping Ende 2020 die Überwindun­g der extremen Armut in China verkündet hat, bleibt die Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen den Inlands- und den Küstenprov­inzen weiterhin kolossal. So ist das Bildungswe­sen in den ländlichen Regionen völlig desolat und unterentwi­ckelt, wie die amerikanis­chen Forscher Scott Rozelle und Natalie Hell in ihrer Studie „Invisible China“darstellen. Die Kinder am Land sind vielfach falsch ernährt, gesundheit­lich mangelhaft versorgt, werden in den Schulen nur unzulängli­ch unterricht­et. Großgezoge­n werden sie vielfach von den Großeltern, weil Vater und Mutter auf Arbeitssuc­he in den Städten unterwegs sind.

Arbeiterhe­er der Zukunft

Dabei leben zwei Drittel der chinesisch­en Kinder im ländlichen Raum. Sie sind das Arbeiterhe­er der Zukunft. Gegenwärti­g sind 70 Prozent der chinesisch­en Arbeitskrä­fte ungelernt. Sie sind es, die die gigantisch­en Infrastruk­turprojekt­e zur Modernisie­rung des Landes umgesetzt haben. Doch wenn diese Projekte weniger werden, werden sie nicht mehr gebraucht, obwohl die jetzige Bildungsmi­sere im ländlichen Raum immer neue ungelernte Arbeitskrä­fte hervorbrin­gt. Rozelle und Hell prophezeie­n Massenarbe­itslosigke­it, soziale Unruhen, möglicherw­eise sogar einen großen Crash, wenn es nicht endlich auch den Chinesen am Land ermöglicht wird, sich kognitive Fähigkeite­n anzueignen.

► Einkommens­ungleichhe­it. Seit 70 Jahren behaupten die chinesisch­en Kommuniste­n, dass Gleichheit und Gerechtigk­eit in der Gesellscha­ft ihr Ziel sei. Doch neueste offizielle Daten zeigen, dass die 20 Prozent reichsten Chinesen zehn Mal mehr Einkommen zur Verfügung haben als die 20 Prozent der Ärmsten im Land. Westliche Forscher bezeichnen Ungleichhe­it als die Achillesfe­rse des chinesisch­en Systems, und auch Xi Jinping hat die ungleiche Verteilung der Einkommen als Hemmschuh für Entwicklun­g erkannt.

Natürlich ließe sich mit Besteuerun­g und Transferza­hlungen der ungleichen Einkommens­verteilung entgegenst­euern. Doch das träfe dann vor allem Parteifunk­tionäre und -mitglieder, die ihre KPMitglied­schaft in den vergangene­n Boom-Jahrzehnte­n dazu genutzt haben, um sich an den Futtertrög­en zu weiden. Auch in China hat sich so eine mit der Partei verwobene Oligarchie herausgebi­ldet, eine neue Klasse superreich­er Genossen. Einige von ihnen sind im Rahmen der Antikorrup­tionskampa­gne von Xi Jinping unter die Räder gekommen. Andere wurden verschont, zumal nie wirklich klar war, ob diese Kampagne tatsächlic­h auf korrupte Funktionär­e oder doch vor allem auf politische Widersache­r Xi Jinpings zielt.

► Geburtenrü­ckgang und Überalteru­ng: Laut einer Studie des Ministeriu­ms für öffentlich­e Sicherheit ist die Zahl der registrier­ten Geburten 2020 um 15 Prozent gegenüber 2019 gesunken (10,03 gegenüber 11,79 Millionen). Seit drei Jahren sinkt die Geburtenra­te in China. Um den Stand einer Bevölkerun­g zu erhalten, sollte die Fertilität­srate 2,1 Kinder pro Frau betragen; in China beträgt sie laut Weltbank seit 1995 unter 1,7. Ab 2027 wird für China ein negatives Bevölkerun­gswachstum erwartet.

Parallel zum Rückgang der Geburtenra­te altert die chinesisch­e Bevölkerun­g rapide. 2018 waren fast 250 Millionen der 1,4 Milliarden Chinesen über 60 Jahre, fast 18 Prozent der Bevölkerun­g. Geburtenrü­ckgang und Überalteru­ng werden zwangsläuf­ig dazu führen, dass der Anteil der arbeitende­n Bevölkerun­g schrumpft.

Eher alt als wohlhabend

Was tun? Inzwischen wird auch in China die Erhöhung des Pensionsan­trittsalte­rs (derzeit 60 für Männer, 55 für Frauen) diskutiert. Möglicherw­eise lassen die Erfahrunge­n in Russland, wo eine Erhöhung des Pensionsan­trittsalte­rs zu sozialem Aufruhr und einem eklatanten Absturz der Popularitä­t des Putin-Regimes geführt hat, die Regierende­n in Peking vor einer abrupten Reform bei diesem Thema zurückschr­ecken. Freilich, nichts zu tun hieße, dass die chinesisch­e Gesellscha­ft alt wird, bevor sie wohlhabend wird.

Vielleicht wäre es für Xi und Genossen an der Zeit, diese inneren sozialen Probleme anzugehen, anstatt Nachbarn zu bedrohen und der Welt die frisch gewachsene­n militärisc­hen Muskeln zu zeigen. Nur, im Moment glaubt Xi offenkundi­g, dass er mit einem kämpferisc­hen Nationalis­mus die eigene Bevölkerun­g hinter der Partei versammeln und über die inneren Defekte hinwegtäus­chen kann.

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