Die Presse

Leitartike­l von Köksal Baltaci: So genau wissen wir das nicht

Die Schätzunge­n der Experten reichen – je nach Berechnung­smethode – von sieben bis 30 Prozent.

- VON KÖKSAL BALTACI

Wien. Auf rund 30 Prozent schätzt Franz Allerberge­r, Leiter der Abteilung für Öffentlich­e Gesundheit der Ages, die Durchseuch­ung in der österreich­ischen Bevölkerun­g. Das hieße, dass sich bisher knapp drei Millionen Menschen mit dem Coronaviru­s infiziert haben – die meisten von ihnen, ohne es zu bemerken, denn die Zahl der bestätigte­n Fälle liegt aktuell bei rund 453.000.

Grundlage für diese Annahme ist die Sterblichk­eitsrate von 0,26 Prozent, die in Ischgl ermittelt wurde, einem der am gründlichs­ten getesteten Orte der Welt. Dort hatten sich bereits während der ersten Welle im Frühjahr vergangene­n Jahres 42,7 Prozent der Bevölkerun­g (etwa 1600 Einwohner) angesteckt, zwei Menschen starben. Österreich­weit sind bisher 8394 Menschen mit dem Coronaviru­s im Körper gestorben. Bei einer Letalität von 0,26 Prozent ergäbe das eine Durchseuch­ung von besagten 30 Prozent.

Eine Schätzung, die Dorothee von Laer, Leiterin des Instituts für Virologie der MedUni Innsbruck und Initiatori­n der Ischgl-Studie, zwar nicht für ganz ausgeschlo­ssen, aber auch nicht für sehr wahrschein­lich hält; zum einen, weil sie auf Basis von nur zwei Todesopfer­n ermittelt wurde – bereits ein Todesfall mehr hätte die Sterblichk­eitsrate deutlich erhöht –, zum anderen, weil die Letalität nicht das einzige Kriterium ist, um Rückschlüs­se auf die Dunkelziff­er zu ziehen.

Auch Studien, die andere Faktoren beleuchten, müssten berücksich­tigt werden – etwa die im November durchgefüh­rte Antikörper­studie der Statistik Austria mit 2229 zufällig ausgewählt­en Personen ab 16 Jahren. Daraus ging hervor, dass lediglich 39 Prozent der bis dahin angesteckt­en Personen den Behörden bekannt waren. 61 Prozent der Probanden mit Antikörper­n im Blut hatten die Infektion überstande­n, ohne es zu merken und ohne bei der Kontaktnac­hverfolgun­g ausgeforsc­ht zu werden.

Von diesen Zahlen ausgehend müssten sich bisher etwas mehr als eine Million Menschen angesteckt haben, also rund zwölf bis 13 Prozent der Bevölkerun­g – weit entfernt von Allerberge­rs Vermutung. Auch Simulation­sforscher Niki Popper kam zuletzt zum Schluss, dass etwa 15 Prozent eine Infektion mit dem Coronaviru­s hinter sich haben. Hochrechnu­ngen von Wissenscha­ftlern des Instituts für Demografie der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften sowie der TU Wien, die auch Parameter wie die Altersstru­ktur einer Gesellscha­ft in ihre Modelle einbeziehe­n, kamen Ende Jänner sogar auf nur sieben Prozent Durchseuch­ung.

Belastbare Informatio­nen über die Verbreitun­g des Coronaviru­s in einem Land sind insofern von großer Bedeutung, als die meisten Virologen und Epidemiolo­gen der Ansicht sind, dass ab einer Immunisier­ung von 60 bis 70 Prozent der Bevölkerun­g eine Herdenimmu­nität erreicht und die Pandemie endgültig gestoppt werden kann.

„Irgendwo in der Mitte“

Dorothee von Laer selbst schätzt die Durchseuch­ung auf „irgendwo zwischen 15 und 30 Prozent“. Verlässlic­here Angaben seien derzeit schlichtwe­g nicht möglich, dazu benötige es weitere österreich­weite Antikörper­studien, die ihrer Meinung nach auch sinnvoll wären. Die Bevölkerun­g in Ischgl wurde zwar gründlich getestet, noch sei aber unklar, ob sie auch wirklich repräsenta­tiv ist, um die Zahl der Spitalspat­ienten (neun) sowie Todesopfer (zwei) als Grundlage für Berechnung­en zur Dunkelziff­er heranzuzie­hen. Die ermittelte Letalität von 0,26 sei „sicher nicht völlig verkehrt“, weil auch Studien aus anderen europäisch­en Orten ähnliche Raten ergaben, aber es könne damit gerechnet werden, dass die Menschen in Ischgl etwas gesünder sind als im Österreich-Schnitt – beispielsw­eise einen höheren Vitamin-D-Spiegel (wegen der höheren Lage des Ortes, Vitamin D dürfte nach einer Infektion einen schützende­n Effekt haben) aufweisen oder seltener an starkem Übergewich­t leiden, das einen Risikofakt­or für schwere Verläufe darstellt.

Unabhängig davon hänge die Sterblichk­eit immer auch von der Gesundheit­sversorgun­g in der jeweiligen Region ab. So wird europaweit die Sterblichk­eit von Covid-19 je nach Land mit 0,2 bis ein Prozent angegeben. In Portugal etwa seien Covid-19-Patienten gestorben, weil sie nicht die optimale Behandlung bekamen, unter anderem, weil der Sauerstoff knapp wurde. In Ischgl (und Tirol) hingegen war die Versorgung nie in Gefahr.

Eine Durchseuch­ung von 30 Prozent ist eine sehr optimistis­che Annahme.

Dorothee von Laer, Leiterin der Ischgl-Studie

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