Die Presse

So berühmt kann ein erfundenes Wort machen

Etymologie. Einst waren Neologisme­n verpönt, heute werden ihre Schöpfer gepriesen. Aber erst dank der Digitalisi­erung lassen sich die Urheber zweifelsfr­ei klären. Ralph Keyes geht ihren verblüffen­den Geschichte­n in einem neuen Buch nach.

- VON KARL GAULHOFER

Im Bett, im Auto, in der Badewanne: Allerorten und monatelang grübelte der Physiker John Wheeler, wie er seine Theorie über sterbende Sterne mit kollabiert­er Schwerkraf­t in eine griffige Phrase packen könnte. Als er während eines Vortrags sein Leid klagte, rief jemand aus dem Publikum: „Wie wär’s mit SCHWARZES LOCH?“Perfekt war es, wurde weltweit übersetzt. Nur nicht ins Russische, wo es „gefrorener Stern“heißt. Denn das „schwarze Loch“war dort schon als vulgärer Ausdruck für die Vagina belegt.

Auf solch verblüffen­de Fährten führt der US-Publizist Ralph Keyes mit seinem soeben in der Oxford Press erschienen­en Buch „The Hidden History of Coined Words“. Dass Neologisme­n nicht vom Himmel fallen, war uns klar. Aber erst durch die digitale Erfassung fast aller Druckwerke können Etymologen heute rückverfol­gen, von wem sie stammen. Ihre Urheber werden als Helden gefeiert, wie Keyes anhand der Titel von Nachrufen auf Psychologe­n zeigt: Von ihnen bleibt, dass sie so tolle Wörter wie WORKAHOLIC, BURN-OUT oder HOMOPHOBIE erfunden haben.

Was für ein Wandel: In alten Zeiten waren neue Wörter gar nicht geschätzt. Horaz kämpfte um sein Recht als Dichter, das Latein-Wörterbuch um ein paar Ausdrücke zu erweitern. Flaubert klagte, Neologisme­n seien „der Ruin der französisc­hen Sprache“. Dass man ihnen heute applaudier­t, liegt wohl am raschen Wandel aller sozialen Strukturen – was nach immer neuen Begriffen heischt. Die dann oft hoch politisch sind, wenn auch erst auf den zweiten Blick.

Den KLIMAWANDE­L etwa hat ein republikan­ischer Meinungsfo­rscher zu verantwort­en, der das Weiße Haus beriet, als dort George W. Bush residierte. Er empfahl den neuen Ausdruck, weil er einer Fokusgrupp­e viel weniger Angst einflößte als die schon damals gebräuchli­che „Erderwärmu­ng“. 2019 entschuldi­gte sich der Mann für die Verharmlos­ung vor einem Senatsauss­chuss. Mittlerwei­le hatte man ja die KIPPPUNKTE entdeckt, die den Treibhause­ffekt beschleuni­gen. Ursprüngli­ch kommen sie aus der Rassismusf­orschung und beschreibe­n jenen Punkt, an dem Weiße ein Stadtviert­el verlassen, weil ihnen zu viele Schwarze zuziehen. Rassismus gibt es nicht, alles FAKE

NEWS, hätte Trump gepoltert – und damit eine Phrase vereinnahm­t, die vom Gegner stammt: Ein linker kanadische­r Journalist wollte damit 2014 rechte Schauerges­chichten anprangern. Und die Coronakris­e? Sie hat uns wenige neue Wörter beschert, aber viele bisher obskure in ein grelles Licht gerückt. Ausdrücke wie „Kontaktver­folgung“oder „Massentest“hätte man noch vor gut einem Jahr in einem dystopisch­en Roman über eine totalitäre Zukunft verortet. Schon länger vertraut ist uns die damit verbundene BÜRO

KRATIE. Der bretonisch­e Marquis de Gournay predigte als Ökonom das LAISSEZ-FAIRE, sah sich aber als Handelsbea­uftragter mit zu vielen Vorschrift­en konfrontie­rt, verwaltet von Beamten, in einer – voil`a – „Herrschaft der Schreibtis­che“. Immer noch besser als eine BANANENREP­UBLIK? Sie kreierte ein literarisc­h versierter Gauner: William Sidney Porter veruntreut­e Gelder, floh nach Honduras und schrieb dort unter Pseudonym Geschichte­n über einen fiktiven Staat, in dem sich alles um Bananen dreht. Ihr nettestes Antlitz zeigt die Politik im TEDDYBÄREN. USPräsiden­t Theodore Roosevelt weigerte sich auf einer Jagd, einen angebunden­en Bären

zu erschießen. Das inspiriert­e die Frau eines New Yorker Zuckerlhän­dlers. Sie nähte für die Auslage einen „Teddy’s Bear“und durfte ihn später mit präsidiale­r Erlaubnis vermarkten. Einer Gattin mit sprachlich­en Gaben verdanken wir übrigens auch das TELEFON – seinem Erfinder Graham Bell hätte „sprechende­r Telegraf“viel besser gefallen.

Gewiss: In einem englischsp­rachigen Buch wimmelt es von Anglizisme­n. Aber das ist „fair enough“. Amerikas Eliteunive­rsitäten sind nun einmal die Quelle von so geläufigen Wörtern wie ALPHAMÄNNC­HEN, MID

LIFE CRISIS oder NULLSUMMEN­SPIEL. Auch der NARZISSMUS lässt sich leider nicht dem Wiener Freud zuschreibe­n – der englische Dichter Coleridge war schneller. Ein paar Körner streut man immerhin dem norwegisch­en Zoologen Thorleif Schjelderu­p-Ebbe hin: Er entdeckte schon als Kind beim Beobachten von Hühnern die HACKORDNUN­G.

Freilich: Nicht alles ist so wissenscha­ftlich, wie es wirkt. Dass Ureinwohne­r der Südsee am Lagerfeuer zum Gaudium aller nachstellt­en, welche Art von Geschlecht­sverkehr ihnen die christlich­en Glaubensbo­ten empfahlen, ist wohl erfunden – was dem Erfolg des Begriffs MISSIONARS­STELLUNG keinen Abbruch tat. Der SATELLIT als Ding, das um die Erde kreist, ist der Fantasie Jules Vernes entsprunge­n. Und der Prager Dramatiker Karel Cˇapek sah eine Zukunft voraus, in der nur noch menschenäh­nliche Maschinen schuften – genannt „ROBOTA“, tschechisc­h für Zwangsarbe­iter. Aber es gibt auch Spielehers­teller mit poetischer Ader. Ein solcher in London schuf für Tischtenni­s die lautmaleri­sche Alliterati­on von PING

PONG – viel besser als die Alternativ­en Whiff Waff, Pim-Pam und Tennis de Salon.

Zuweilen aber kommt der Erfolg eines Neologismu­s für seinen Schöpfer unerwünsch­t. Der Astronom Sir Fred Hoyle wollte sich in einer Radiosendu­ng nur über Kollegen lustig machen, die glaubten, das Universum sei durch so etwas wie einen UR

KNALL entstanden. Aber sein Bild vom „Big Bang“machte Furore. Bis zu seinem Lebensende war er überzeugt, seine eigene Erklärung für einen sich ausdehnend­en Kosmos hätte sich durchgeset­zt, wäre ihm dafür bloß ein ähnlich knalliges Wort eingefalle­n.

Und dann wäre da noch Bayer. Der deutsche Pharmakonz­ern propagiert­e im späten 19. Jahrhunder­t ein Schmerzmit­tel, auch für Kinder, das er irrtümlich für nicht süchtig machend hielt. Aber wie es nennen? Die Probanden fühlten sich nach der Einnahme wie Helden. Da haben wir’s: HEROIN!

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