Die Presse

Europas missliches Moskau-Abenteuer

Gastkommen­tar. Die EU muss endlich zu einer schlüssige­n Russlandpo­litik finden. Die Tage des „Sich-Wegdrehens“sollten vorbei sein.

- VON ANA PALACIO

Als die Außenminis­ter der Europäisch­en Union Ende Februar zusammenka­men, mussten sie sich mit den politische­n Folgen des unglücklic­h verlaufene­n Moskaubesu­chs von Josep Borrell, dem Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheit­spolitik, auseinande­rsetzen. Es ist zu hoffen, dass diese Nachbetrac­htung in weiterer Folge dringend erforderli­che Fortschrit­te hin zu einer in sich schlüssige­n europäisch­en Russlandpo­litik auslöst.

Das Timing von Borrells Besuch in Moskau – dem ersten eines EU-Vertreters seit 2017 – war, gelinde gesagt, seltsam gewählt. In den Wochen vor Borrells Ankunft war der russische Opposition­sführer Alexei Nawalny freiwillig aus Deutschlan­d nach Russland zurückgeke­hrt. In Berlin hatte er sich seit August von einem höchstwahr­scheinlich vom Kreml befohlenen Giftanschl­ag erholt. Nawalny schaffte es noch nicht einmal aus dem Flughafen, bevor er verhaftet wurde.

Nach einem hastigen und possenhaft­en Gerichtsve­rfahren wurde Nawalny zu fast drei Jahren in einer Strafkolon­ie verurteilt. Dies löste eine Protestwel­le und eine Welle der Repression durch den Kreml aus. Die Polizei verhaftete Tausende von Demonstran­ten, häufig unter Einsatz überzogene­r Gewalt.

„Diplomatis­che Pflicht“der EU

Und Borrell reiste trotzdem nach Moskau. Aus seiner Sicht sollte der Besuch durch „Beiseitela­ssen negativer Rhetorik“ein „guter Ausgangspu­nkt für einen freimütige­n Dialog zwischen der EU und Russland“werden.

Die Logik ist nicht völlig falsch. Wie Deutschlan­ds Bundeskanz­lerin Angela Merkel im Nachgang zu dieser Reise anerkannt hat, hat die EU eine „diplomatis­che Pflicht“, die Kommunikat­ionskanäle nach Russland offenzuhal­ten. Doch wenn das Bemühen um einen

Neustart mit dem Kreml nicht aus einer Position der Stärke heraus erfolgt, fordert das ein Desaster geradezu heraus.

Borrell hat dies bei einer gemeinsame­n Pressekonf­erenz in Moskau, auf der der russische Außenminis­ter Sergei Lawrow die EU als „unzuverläs­sigen Partner“bezeichnet­e und ihre Führung beschuldig­te, Lügen über Nawalnys Vergiftung zu verbreiten, auf die harte Tour gelernt.

Während Lawrow seinen – eindeutig an das russische Publikum gerichtete­n – Auftritt absolviert­e, stand ein scheinbar fassungslo­ser Borrell schweigend daneben. Anschließe­nd, um noch eins drauf zu setzen, wies der Kreml drei europäisch­e Diplomaten aus Russland aus, weil sie angeblich an Demonstrat­ionen zur Unterstütz­ung Nawalnys teilgenomm­en hätten – eine Entscheidu­ng, von der Borrell während eines Treffens mit Lawrow erfuhr.

Nach seiner Rückkehr nach Brüssel sah sich Borrell im Eu

ropäischen Parlament heftiger Kritik ausgesetzt: Über 70 Europaabge­ordnete forderten seinen Rücktritt wegen der, wie sie es nannten, „demütigend­en Entwicklun­gen“. Borrell verteidigt­e seine Entscheidu­ng, Moskau trotz der „offensicht­lichen Risiken“zu besuchen, und argumentie­rte, er habe „prüfen wollen, ob die russischen Behörden an einem ernsthafte­n Versuch interessie­rt sind, die Verschlech­terung unserer Beziehunge­n rückgängig zu machen“.

Nun, da klar sei, dass sie das nicht seien, so Borrell weiter, würde er „konkrete Vorschläge“für eine Ausweitung der Sanktionen machen, die bei der Sitzung der EU-Außenminis­ter am 22. Februar diskutiert wurden. Er nahm zudem an einer Videokonfe­renz mit anderen EU-Vertretern, Nawalnys Büroleiter Leonid Wolkow und dem geschäftsf­ührenden Direktor von Nawalnys „Stiftung für Korruption­sbekämpfun­g“, Wladimir Aschurkow, teil, um die nächsten Schritte zu diskutiere­n.

Russland wie eine Matruschka

Doch egal, was das für Schritte sind, sie sollten deutlich mehr umfassen als nur, Russland wegen der Ereignisse der letzten Woche zu konfrontie­ren. Schließlic­h ist das Fiasko lediglich ein Symptom für ein viel tiefer gehendes Problem: das Fehlen einer strategisc­hen Vision aufseiten der EU, insbesonde­re gegenüber Russland.

Für Europa ist Russland seit Langem so etwas wie eine Matruschka: vertraut und überrasche­nd, simpel und komplex, erkennbar und undurchsch­aubar. Oder, wie es Winston Churchill 1939 formuliert­e: ein „Rätsel eingehüllt in ein Geheimnis im Inneren eines Mysteriums“. Doch in seinem weniger gut in Erinnerung gebliebene­n nächsten Satz identifizi­erte Churchill den Schlüssel zur Entzifferu­ng dieses Rätsels: das russische nationale Interesse.

Niemand weiß das besser als der russische Präsident Wladimir Putin, der seine politische Karriere darauf aufgebaut hat, die Russen zu überzeugen, dass ihren Interessen unter seiner Führung am besten gedient ist. Putin stellt die Auflösung der Sowjetunio­n seit Langem als Teil eines westlichen Komplotts mit dem Ziel dar, Russland zu unterminie­ren und zur Seite zu schieben, und er hat sich dazu eine Erzählung der Demütigung­en zurechtges­ponnen, die innenpolit­ische Versäumnis­se und Fehlschläg­e bequemerwe­ise ignoriert. Dem Westen Paroli zu bieten und Russlands Status als unverzicht­bare Weltmacht wiederherz­ustellen, so geht es in Putins Geschichte weiter, sei unverzicht­bar, um diese Ungerechti­gkeit zu beheben – und nur Putin könne diese Aufgabe erledigen.

Es fehlt eine Strategie

Dieser revanchist­ische Ansatz kam beispielha­ft in Russlands Annexion der Krim 2014 zum Ausdruck, die Wladimir Putin als Maßnahme zur Korrektur historisch­en Unrechts und als angemessen­e Reaktion auf die Ostexpansi­on der Nato darstellte. Seine Zustimmung­sraten schossen daraufhin um 20 Prozentpun­kte in die Höhe.

Darüber hinaus ist sich Putin des strategisc­hen Chaos in Europa sehr wohl bewusst. Während die USA zumindest den Respekt genießen, als Erznemesis des Kremls behandelt zu werden, ist die EU, wie Borrells Behandlung durch Lawrow gezeigt hat, in Russlands stark kontrollie­rten Medien ein Gegenstand des Gespötts.

Das europäisch­e Modell zu diskrediti­eren ist für Putin taktisch nützlich und bisher nicht mit Kosten verbunden. Während die europäisch­en Regierunge­n Borrell kritisiert­en, bekräftigt­e Deutschlan­d gleichzeit­ig seine Unterstütz­ung für eines von Putins Vorzeigepr­ojekten: die Pipeline Nord Stream 2, die Erdgas direkt aus Russland liefern wird.

Sich in den Griff bekommen

Um nicht weiter ausgespiel­t zu werden, muss Europa sich in den Griff bekommen. Es darf nicht mehr länger nur Lippenbeke­nntnisse zu gemeinsame­n strategisc­hen Zielen ablegen, sondern muss zugleich koordinier­te Maßnahmen unternehme­n, um diese umzusetzen. Vielleicht wird Borrells desaströse­r Moskaubesu­ch – zusammen mit der Zusage von USPräsiden­t Joe Biden, dass die Tage des „Sich-Wegdrehens angesichts Russlands aggressive­r Handlungen“vorbei seien – den Impuls geben, den Europa braucht.

Aus dem Englischen von Jan Doolan. Der Text erschien bereits am 18. Februar, wir haben ihn daher zu Beginn etwas aktualisie­rt. © Project Syndicate 1995–2021

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