Ist Nawalny ein Rechtsextremer?
Gastkommentar. Der Kreml versucht, den Westen mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.
Kürzlich wurde publik, dass Amnesty International dem russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, der bekanntlich eine politisch motivierte Haftstrafe absitzt, den Status des „Gewissensgefangenen“abgesprochen habe. Genauer: Eine interne Positionierung, wonach man weiterhin für Nawalnys Freilassung kämpfen, den Wortlaut aber modifizieren werde, geriet an die Öffentlichkeit. In Westeuropa haben sich zuletzt kritische Stimmen gehäuft, die Nawalny als extremen Nationalisten brandmarken, in manchen Kommentaren in den sozialen Medien stand gar von einer „Angst“zu lesen, die Nawalnys „kalte Augen“hervorrufen würden.
Dann brachte ein Zoom-Anruf in der Londoner AmnestyZentrale, in dem zwei bekannte Spaßmacher aus dem russischen Fernsehen vorgaben, zu Nawalnys Stab zu gehören, die NGO ins Schwanken; man stieg gutgläubig auf eine Diskussion zum Schlagwort des „Gewissensgefangenen“ein und lächelte in die Kamera. Es dürfte ein Feiertag für den Kreml gewesen sein, über 100 russische Medien berichteten.
Wahr ist, dass aus Nawalnys Vergangenheit einige Aussagen und Videos existieren, die gerade in Ländern, die seit Jahrzehnten daran arbeiten, ihre NS-Vergangenheit zu überwinden, zumindest Unverständnis hervorrufen. Wahr ist auch, dass er 2007, als sich abzeichnete, dass Putins Garde aus Russland einen Staat autoritärer Prägung formen würde, Seite an Seite mit seiner jüdischen Mentorin Jewgenija Albaz am „Russischen Marsch“teilnahm – auf deren explizite Aufforderung hin, das Gespräch mit nationalistischen Kräften zu suchen. Albaz hat in Harvard in Politologie promoviert und trug auf dem Marsch einen gelben Stern. Nawalny „habe viel einstecken“müssen dafür, Seite an Seite mit einer Jüdin unterwegs zu sein, erzählte Albaz – unter Verwendung eines Kraftausdrucks – der
Reporterin Masha Gessen in einem Interview für das Magazin „New Yorker“.
An der Affäre rund um Amnesty International lässt sich ablesen, dass die russische Medienmaschinerie versucht, den Westen mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Die politkorrekte Empfindsamkeit, die hierzulande immer mehr zum Thema wird, betrachten weite Kreisen der russischen Intelligenzija eigentlich mit Befremden. Vor wenigen Wochen schrieb der Regisseur Konstantin Bogomolow in der oppositionellen „Novaja Gazeta“von Europa als einem „neuen ethischen Reich“, er verwendete das deutsche Wort, eine eindeutige NSKonnotation. Russia Today, ein bekannter Player der Kreml-Propaganda, zitierte dennoch plötzlich mit Genuss eine gewisse Katya Kazbek, die Nawalny von New York aus als „Nationalisten“und „Rassisten“bezeichnet hatte; die junge Aktivistin residiert in Manhattan und ist Tochter eines Mannes, der im Raubtierkapitalismus der russischen Neunzigerjahre ein Millionenvermögen machte – das ist im Übrigen jene Klasse, der Nawalny ganz genau auf die Finger schaut.
„You’re As Racist As Nawalny“
Bekanntlich orientieren sich auch in Österreich viele Menschen auf der Suche nach „alternativen“Nachrichten an Russia Today. „Question more!“, fordert die englischsprachige Version der Seite von den Lesern, als könne man anderen Medien nicht trauen. Denselben Spürsinn sollte man auch bei Konsum von RT-Inhalten an den Tag legen. Katya Kazbek zu hypen ging übrigens nach hinten los: Als Margarita Simonjan, die Chefredakteurin der englischen RT, Kazbeks Statement auf Twitter teilte, kam postwendend die Antwort der selbstbewussten jungen Dame: „You’re as racist as Nawalny is, so go fuck yourself.“Katharina Tiwald (* 1979) ist freie Autorin. Sie studierte Sprachwissenschaft und Russisch in Wien, St. Petersburg und Glasgow.