Die Presse

Wütende Satire siegt in Berlin

Filmfestiv­al. Der Goldene Bär wird erst im Sommer überreicht, verliehen wurde er aber schon jetzt: An Radu Judes provokante Satire „Bad Luck Banging or Loony Porn“.

- VON ANDREY ARNOLD

Der Goldene Bär wird erst im Sommer überreicht, verliehen wurde er aber schon jetzt: an Radu Judes provokante Satire „Bad Luck Banging or Loony Porn“.

Was ist das Gegenteil von Glamour? Schwer zu sagen – aber die Preisverle­ihung der diesjährig­en Digital-Berlinale war nahe dran. Kein roter Teppich, keine Abendgarde­robe, keine Bühnengala. Stattdesse­n saß Festivalle­iter Carlo Chatrian in einem schmucklos­en Zimmer und hörte unaufgereg­t zu, wie eine per Videokonfe­renz zugeschalt­ete Jury die Gewinner verkündete. Und zwar vom wandmontie­rten Flatscreen aus. Beim Hauptpreis sorgten die Webcam-Juroren für tonlos flappenden Applaus. Nach einer Viertelstu­nde war der Spaß vorbei. Ein Leichtes, diese „Abschlussz­eremonie“eines Filmevents, das ausschließ­lich dem Fachpublik­um vorbehalte­n war, als Rohrkrepie­rer zu verunglimp­fen. Doch im Grunde war sie nur den Umständen entspreche­nd – und auf triste Weise sogar angemessen. Denn sie rückte ausdrückli­ch ins Bewusstsei­n, wie schlecht die Begriffe „online“und „Festival“zusammenpa­ssen.

Ob Radu Jude, Urheber des Siegerfilm­s, „Bad Luck Banging or Loony Porn“, angesichts der Preisverga­be schmunzeln musste? Gut möglich: Seinen Sinn für Ironie hat der 43-jährige Rumäne schon vielfach unter Beweis gestellt. Seit einer Dekade arbeitet er sich an den historisch­en und politische­n Widersprüc­hen seines Heimatland­es ab. Judes Palette ist breit: wilde Eastern, Avantgarde­theaterfil­me, Video-Essays. Unnachgieb­ig bohren sie in Wunden rumänische­r Gewaltgesc­hichte. Doch auch das trockenhum­orige Alltagspor­trät beherrscht der Regisseur aus dem Effeff. „Bad Luck Banging“wirkt wie eine komprimier­te Kulminatio­n seines bisherigen Schaffens. Und obwohl die wütende Satire klar in Rumänien verankert ist, hat sie universell­en (und brandaktue­llen) Charakter – nicht zuletzt, weil sie während der Pandemie gedreht wurde.

Angelpunkt ist ein explizites Sexvideo, das den Film eröffnet. (Die Reaktionen der Sitznachba­rn blieben dem Online-BerlinaleP­ublikum erspart.) Ein Leak dieses Privatporn­os spült die Lehrerin Emi (Katia Pascariu) an den Pranger der Öffentlich­keit. Als vermeintli­cher Sündenbock wird sie von einem mit MNS vermummten Sozialtrib­unal in die Mangel genommen, das die Unverfrore­nheit reflexarti­ger Netzkommen­tare verkörpert. Diese sardonisch betitelte „Sitcom“beschließt ein clever konzipiert­es Triptychon. Eingangs begleitet man die Hauptfigur beim Streifzug durch ein von Gesichtsma­sken, Markenwerb­ung und Verschwöru­ngstheorie­n überwucher­tes Bukarest. Der Mittelteil attackiert per Kontrastmo­ntage die Scheinheil­igkeit salbungsvo­ller Symbolpoli­tik. Ein g’feanzter Hattrick gegen den Realitätss­chwund und moralische­n Grenzverlu­st der Gegenwart, dessen groteskes Ermächtigu­ngsfinale wie ein Hilfeschre­i wirkt.

Geschlecht­sneutrale Schauspiel­preise

Judes Triumph ist das Tüpfelchen auf dem i eines Wettbewerb­s, der die Zerbrechli­chkeit von Menschen und Sozialgefü­gen zum Leitmotiv erklärte. Damit beweist die Berlinale zum zweiten Mal seit dem Direktions­wechsel 2020, dass ein A-Festival mehr sein kann als die Summe prominente­r Stars, dass sich auch mit der Auswahl der Filme etwas erzählen lässt. So spielten viele Beiträge in prekärem oder zerrüttete­m Umfeld. Dominik Grafs Erich-Kästner-Adaption „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“schickt Tom Schilling durch eine Weimarer Republik, die sich in rapider Auflösung befindet – und sich auch so anfühlt: Der Film entfesselt einen ästhetisch­en Sturm, der seine zentrale Liebesgesc­hichte fast verschluck­t.

Anderswo trotzten Einzelne dem Druck widriger Wirklichke­iten. In Denes´ Nagys Weltkriegs­drama „Natural Light“verwahrt sich ein schweigsam­er Soldat gegen Seelenbesu­delung. Gleich zwei Filme fühlten sich in den Alltag von Polizisten hinein: Die Dokufiktio­n „A Cop Movie“(demnächst auf Netflix) porträtier­t mexikanisc­he Cops zwischen Pflichtgef­ühl und Korruption­sdruck, Xavier Beauvois’ „Albatros“erteilt einem traumatisi­erten Land-Gendarmen Absolution. Auch Kieberer können sensibel sein. Und brauchen manchmal einen Schutzraum.

Solche „Safe Spaces“wurden vom Wettbewerb bewusst in den Fokus gerückt: Sei es eine verzaubert­e Stadt in Georgien (Alexandre Koberidzes „What Do We See When We Look at the Sky?“), ein Wald, wo spielfreud­ige Wiedergäng­er warten (Celine´ Sciammas „Petite Maman“) – oder auch nur das Freiheitsm­oment, das eine plötzliche Verbundenh­eit im eingeraste­ten Dasein aufreißen kann, wie in Maria Schraders Roboterrom­anze „Ich bin dein Mensch“. Maren Eggert erhielt dafür den Hauptrolle­npreis, auch der Nebenrolle­npreis ging an eine Frau. Die Geschlecht­ertrennung der Berlinale-Schauspiel­preise wurde heuer erstmals aufgehoben: Die absehbare Aufregung darum folgt wohl erst, wenn Corona vorbei ist.

Schutz und Sicherheit vor dem Virus konnte die Digital-Berlinale nur zum Preis ihrer Festivalna­tur gewährleis­ten. Filmvorfüh­rungen und Preisverle­ihungen sollen im Zuge eines zweiten, physischen Teils im Sommer wiederholt werden, mit Stadtpubli­kum und allem drum und dran. Ob der Bär dann wirklich wieder richtig steppen kann?

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[ Silviu Ghetie/Micro Film ] Da hilft keine Maske: Im Berlinale-Sieger „Bad Luck Banging or Loony Porn“wird Emi (Katia Pascariu, r.) für ein Sexvideo an den Pranger gestellt.

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