Desertion und Flucht – ein jüdisches Leben
Der ostgalizische Jude Joseph Melzer und seine Liebe zur Literatur.
Im Jahr 1908, als Joseph Melzer im altösterreichischen Galizien geboren wurde, da war die Welt halbwegs friedlich, auf jeden Fall genau geteilt: Der Kaiser in Wien schützte die Juden, und diese verehrten ihn, wenngleich sie bettelarm blieben. Doch der Sturmwind der Geschichte war schon zu spüren, der eine ganze Generation durcheinanderwirbeln sollte.
Drei große Reiche verfielen und Galizien wurde dem neu geschaffenen Polen angeschlossen. Die Familie Melzer floh nach Berlin, der Jüngling wurde Buchhändler und machte sich bei den Nazis unbeliebt. Also wieder Flucht – diesmal nach Palästina, obgleich er den Zionismus als Spielart des Nationalismus zutiefst ablehnte. 1936 wagte Melzer daher noch einmal einen Versuch in Berlin, denn das Hitler-Regime täuschte mit den großartigen Olympischen Spielen nicht nur ihn, sondern die ganze Welt. Danach eine neuerliche Flucht – diesmal nach Paris. Weil der polnische Botschafter seinen Pass nicht verlängern wollte, musste er 1939 nach Warschau. Und dort erwischte ihn der Zweite Weltkrieg.
Er floh nach Osten, in der Hoffnung, über das Mittelmeer wieder zurück nach Paris zu kommen, aber von Osten kamen die Russen und verhafteten ihn als deutschen Spion, weil sein Pass voll mit deutschen Stempeln war. Nach endlosen Verhören wurde er zu zehn Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Die zehn Jahre wurden auf zwei Jahre verkürzt, als 1941 die polnische Armee des General Anders gegründet wurde und sich in Südrussland versammelte. Melzer wurde nach Samarkand in Usbekistan verbracht, wo er desertierte, weil er nicht vorhatte, für die Polen in den Krieg zu ziehen.
Er blieb zwei Jahre in Samarkand und erlebte dort die Hölle auf Erden. Mit seiner Frau und Sohn Abraham war also wieder eine Flucht nötig. So gelang es ihm und seiner Familie, aus Russland, damals schon hinter dem Eisernen Vorhang, zu entfliehen und in einem Lager für Überlebende des Holocaust im steirischen Admont unterzukommen. Als „DP“, Displaced Person, im wahrsten Sinne des Wortes.
Kein Freund des Zionismus
1948 wurde die Familie nach Palästina geschickt, das am gleichen Tag von BenGurion zum Staat „Israel“deklariert ward. Das Leben in Israel war aber mühsam, und die brutale Enteignung der altansässigen Palästinenser gefiel Melzer überhaupt nicht. Vom jüdischen Nationalismus zeigte er sich ebenso angewidert wie vom Nationalsozialismus der Deutschen. Bei der erstbesten Gelegenheit kehrte Joseph Melzer zurück nach Deutschland und gründete 1958 in Köln seinen Verlag. Ein glänzender Scoop gelang mit der „Geschichte der O“– ein schlüpfriger Weltbestseller, doch die Millionen versickerten wegen Melzers abgrundtiefer Liebe zu deutscher Literatur. Die gesammelten Werke Ludwig Börnes ließ er in abenteuerlicher Auflage drucken, doch kein Mensch interessierte sich für diesen Frankfurter jüdischen Dichter. Allein die Lagerkosten für Tausende und Abertausende Börne-Bände rissen den Verlag nahezu in den Abgrund.
Melzer blieb ein angesehener und respektierter Antiquar, noch mehr aber ein leidenschaftlicher Buchliebhaber. Es kam nicht selten vor, dass er einem Interessenten den Kauf eines Buches ausredete, weil er sich vom Buch nicht trennen konnte. In Darmstadt, seiner letzten Lebensstation, starb Joseph Melzer 1984.