Wallfahrt auf zwei dünnen Latten
Loipen. Selbst beim Langlaufen im Mariazellerland kommt man nicht an Heiligen vorbei. Oder eben doch.
Man müsste nur die richtige Frau geheiratet haben. Das denkt, wer in der Langlaufloipe in der Walstern, einem kleinen Tal und Erholungsgebiet im Mariazellerland an der Landesgrenze zwischen der Steiermark und Niederösterreich, seine Runden dreht. Denn im Talkessel der Walstern liegt jenes Geschenk, das Margret Krupp (1858–1920) ihrem Mann, Arthur, einem begeisterten Waidmann, zur Silberhochzeit im Jahr 1906 gemacht hat: der idyllische Hubertussee mit seinen Holzhäuschen zum Verlieben. Er ist ein romantisches Ziel für Ausflügler und ein beliebtes Refugium für Wasservögel wie Fische – Stockenten, Schwäne oder Blässhühner, Forelle, Saibling oder Äsche. Ursprünglich wurde der See auch zur Gewinnung von elektrischer Energie aus dem Lauf der Weißen Walster geschaffen, um die entlegene Talenge mit Strom zu versorgen.
Elektrisiert von der Schönheit dieses großteils unter einer dicken Eis- und Schneedecke ruhenden Bergsees, der dem Heiligen Hubertus (Schutzpatron der Jäger) seinen Namen verdankt, gleitet der klassische Langläufer in der eisigen Spur gemächlich weg von dem Gewässer, während die Skater im Schlittschuhschritt davonzugaloppieren scheinen. „O Sünder fass zu Herzen meine großen Schmerzen“, war noch an der Straße zum Hubertussee zu lesen gewesen. Da sollte man es nicht übertreiben!
Spenden statt zahlen
Aus dem Augenwinkel sieht man noch die am Nordufer stehende Bruder-Klaus-Kapelle. Dieses kleine, Nikolaus von der Flüe (1417–1487) geweihte Gotteshaus wurde in den Jahren 1965 bis 1967 erbaut. In den kunstvollen, farbenprächtigen Kirchenfenstern ist das Leben des Schweizer Nationalheiligen, der als Einsiedler, Seelsorger, Mystiker und Ratgeber europäischer Staatsmänner am Ende des Mittelalters wirkte, dargestellt.
Das schattig gelegene Langlaufgebiet in der Walstern, einem wahren Schneeloch, kommt ganz unprätentiös daher: keine hochtrabenden Streckenprofile, frustrierende Kilometerangaben oder sündteure Kassenautomaten. Stattdessen improvisiert wirkende hölzerne Wegweiser, die Spendenbüchse nimmt sich wie ein bescheidender Opferstock aus. Auf dünnen Latten geht es hoch über dem Ottersbach im Sandiggraben zunächst hinauf zur Landesgrenze in das von der Schwarzen Walster, dann weiter über Salza und Enns entwässerte Fadental. Von dort fährt man auf einer Rundstrecke durch das Schnittlermoos, ehe man entlang sprudelnder Bachmäander und rauschender Wasserfälle wieder ins Fadental zurückkehrt. Nach einiger Zeit hat man – nomen est omen – den Faden verloren und wähnt sich orientierungslos in einer eigenen Welt, aus der einem die Loipe aber wieder herausführt.
Mitunter wird das Terrain steil, bergauf und bergab, zwei in orange Schutzmatten gehüllte Bäume dürften womöglich Zeugen allzu beherzter Schussfahrten geworden sein. Schließlich erreicht man die gleichnamige, nur wenige, aber teils urige Häuser zählende Rotte. Sie zählt zu den wohl verborgensten Winkeln Niederösterreichs und ist mit dem Auto nur über eine kleine Straße von Ulreichsberg aus über den Hubertussee ins Halltal erreichbar. „Seit’s des olte Wirtshaus nimmer gibt, ist do gor nix nimmer los“, jammern zwei einheimische Langläufer im Grenzlanddialekt. Fadental besitzt übrigens eine steirische Postleitzahl.
Wuchteln, im Take-away
Wer die etwas mehr als 15 Loipenkilometer hinter sich bringt, wird hernach rechtschaffen müde sein. Doch nach dem Langlaufen kann man sich am kulinarischen Höhepunkt der Region erfreuen. Könnte, besser gesagt, wäre da nicht gerade Corona: Bei der legendären, im Winter wie im Sommer beliebten „Wuchtlwirtin“erhielte man zur Hausmannskost oder zum namensgebenden Gericht von der Standard- bis hin zu einer Luxusvariante mit Schoko- und Vanillesauce sowie Eierlikör auch eine gediegene Portion urigen Grant. Ein paar Wuchtelvarianten bekommt man nun auch zu Coronazeiten im Take-away-Modus ins Freie hinaus verkauft, Wort wird dabei keines zu viel verloren.
Zahlreiche Denkmäler, Statuen und Bildsäulen erinnern in diesem Landstrich am Hubertussee an das Wirken des von seiner Frau reich beschenkten Industriellen und Mäzens Arthur Krupp (1856– 1938), unter dem die von den Unternehmern Alexander Schoeller und Alfred Krupp, dem Onkel Arthurs, gegründete und von seinem Vater Hermann geleitete Berndorfer Metallwarenfabrik einen gigantischen Aufschwung erlebte. Ein Standbild von Kaiser Franz Joseph I. (1830–1914), ein dem preußischen Generalmajor Carl Ulrich von Bülow (1862–1920) gewidmeter Gedenkstein sowie ein Brunnen, der zu Ehren Peter Graf Morzins (1807-1877), dem Kämmerer Erzherzog Johanns (1782–1859), errichtet wurde, erinnern an drei bekannte Jagdfreunde Arthur Krupps, die in dieser Gegend immer wieder auf die Pirsch gingen. Arthur Krupp selbst genoss als Jagdherr in der Walstern offenbar den Status eines Heiligen.
Hüben und drüben
Das Mariazellerland hat freilich noch weitere Strecken für Langläufer zu bieten. Insgesamt umfasst das Loipennetz 36,5 Kilometer, die sich sowohl für Anfänger als auch für geübte Läufer eignen. So stehen kleine Loipen in Aschbach und im Oberen Halltal zur Verfügung. Oder es lässt sich die Mariazellerland-Loipe von Sankt Sebastian – einst die nördlichste Gemeinde der Steiermark, seit dem Jahr 2015 wie Halltal allerdings ein Ortsteil der Stadtgemeinde Mariazell – mit der Erlaufloipe in Mitterbach kombinieren. Wodurch man sich wieder nach Niederösterreich begibt.
Unbedingt besichtigen sollte man die wunderschön gelegene Kirche von Sankt Sebastian, die vom Baumeister der Mariazeller Basilika, Domenico Sciassia (1599/1603–1679), entworfen und ab 1644 errichtet wurde. Das Bauwerk, dessen von Michael Hönel (1590–1653) geschaffener Hochaltar das grausame Martyrium des Kirchenpatrons, nämlich dessen von Pfeilen durchbohrte Brust, eindrucksvoll zeigt, ist die letzte Station der Pilger auf der Wallfahrt von Wien nach Mariazell.
Ötscher bestimmt das Bild
Das fahle Morgenlicht, in dem sich die Dunstwolken und Nebelschleier nur langsam heben, lässt einen glauben, Caspar David Friedrich hätte diesen Himmel, diese Berglandschaft für den Betrachter hingepinselt.
Während man durch das sanft kupierte Gelände schwingt, eröffnen sich immer wieder Ausblicke auf die nahe Gemeindealpe und den mächtigen Ötscher, der hier das Landschaftsbild dominiert. Belohnt mit diesen wunderbaren Bildern, ist der Körper angespornt, den lieben langen Wintertag in der Loipe sein Bestes zu geben.
Wer länger im Mariazellerland verweilt, der könnte – in normalen Jahren – etwa auch dem Schneeschuhwandern, Pferdekutschenfahren, Eisstockschießen sowie dem Skisport auf der niederösterreichischen Gemeindealpe in Mitterbach oder auf der Bürgeralpe in Mariazell nachgehen. Und dann abends in den Genuss einer Rodelpartie auf einer gut beleuchteten Strecke kommen.
Die außergewöhnlich pittoreske Landschaft des Mariazellerlands, in der die Schneekristalle tagsüber das Sterneglitzern des klaren nächtlichen Winterhimmels wiederzugeben scheinen, hat auch das Sportlerherz höherschlagen lassen. Und am Ende lebt selbst die Hoffnung, auch einmal einen See geschenkt zu bekommen, noch immer. Die silberne Hochzeit ist schließlich noch weit, weit weg.