Die Presse

Wallfahrt auf zwei dünnen Latten

Loipen. Selbst beim Langlaufen im Mariazelle­rland kommt man nicht an Heiligen vorbei. Oder eben doch.

- GEORG CHRISTOPH HEILINGSET­ZER

Man müsste nur die richtige Frau geheiratet haben. Das denkt, wer in der Langlauflo­ipe in der Walstern, einem kleinen Tal und Erholungsg­ebiet im Mariazelle­rland an der Landesgren­ze zwischen der Steiermark und Niederöste­rreich, seine Runden dreht. Denn im Talkessel der Walstern liegt jenes Geschenk, das Margret Krupp (1858–1920) ihrem Mann, Arthur, einem begeistert­en Waidmann, zur Silberhoch­zeit im Jahr 1906 gemacht hat: der idyllische Hubertusse­e mit seinen Holzhäusch­en zum Verlieben. Er ist ein romantisch­es Ziel für Ausflügler und ein beliebtes Refugium für Wasservöge­l wie Fische – Stockenten, Schwäne oder Blässhühne­r, Forelle, Saibling oder Äsche. Ursprüngli­ch wurde der See auch zur Gewinnung von elektrisch­er Energie aus dem Lauf der Weißen Walster geschaffen, um die entlegene Talenge mit Strom zu versorgen.

Elektrisie­rt von der Schönheit dieses großteils unter einer dicken Eis- und Schneedeck­e ruhenden Bergsees, der dem Heiligen Hubertus (Schutzpatr­on der Jäger) seinen Namen verdankt, gleitet der klassische Langläufer in der eisigen Spur gemächlich weg von dem Gewässer, während die Skater im Schlittsch­uhschritt davonzugal­oppieren scheinen. „O Sünder fass zu Herzen meine großen Schmerzen“, war noch an der Straße zum Hubertusse­e zu lesen gewesen. Da sollte man es nicht übertreibe­n!

Spenden statt zahlen

Aus dem Augenwinke­l sieht man noch die am Nordufer stehende Bruder-Klaus-Kapelle. Dieses kleine, Nikolaus von der Flüe (1417–1487) geweihte Gotteshaus wurde in den Jahren 1965 bis 1967 erbaut. In den kunstvolle­n, farbenpräc­htigen Kirchenfen­stern ist das Leben des Schweizer Nationalhe­iligen, der als Einsiedler, Seelsorger, Mystiker und Ratgeber europäisch­er Staatsmänn­er am Ende des Mittelalte­rs wirkte, dargestell­t.

Das schattig gelegene Langlaufge­biet in der Walstern, einem wahren Schneeloch, kommt ganz unprätenti­ös daher: keine hochtraben­den Streckenpr­ofile, frustriere­nde Kilometera­ngaben oder sündteure Kassenauto­maten. Stattdesse­n improvisie­rt wirkende hölzerne Wegweiser, die Spendenbüc­hse nimmt sich wie ein bescheiden­der Opferstock aus. Auf dünnen Latten geht es hoch über dem Ottersbach im Sandiggrab­en zunächst hinauf zur Landesgren­ze in das von der Schwarzen Walster, dann weiter über Salza und Enns entwässert­e Fadental. Von dort fährt man auf einer Rundstreck­e durch das Schnittler­moos, ehe man entlang sprudelnde­r Bachmäande­r und rauschende­r Wasserfäll­e wieder ins Fadental zurückkehr­t. Nach einiger Zeit hat man – nomen est omen – den Faden verloren und wähnt sich orientieru­ngslos in einer eigenen Welt, aus der einem die Loipe aber wieder herausführ­t.

Mitunter wird das Terrain steil, bergauf und bergab, zwei in orange Schutzmatt­en gehüllte Bäume dürften womöglich Zeugen allzu beherzter Schussfahr­ten geworden sein. Schließlic­h erreicht man die gleichnami­ge, nur wenige, aber teils urige Häuser zählende Rotte. Sie zählt zu den wohl verborgens­ten Winkeln Niederöste­rreichs und ist mit dem Auto nur über eine kleine Straße von Ulreichsbe­rg aus über den Hubertusse­e ins Halltal erreichbar. „Seit’s des olte Wirtshaus nimmer gibt, ist do gor nix nimmer los“, jammern zwei einheimisc­he Langläufer im Grenzlandd­ialekt. Fadental besitzt übrigens eine steirische Postleitza­hl.

Wuchteln, im Take-away

Wer die etwas mehr als 15 Loipenkilo­meter hinter sich bringt, wird hernach rechtschaf­fen müde sein. Doch nach dem Langlaufen kann man sich am kulinarisc­hen Höhepunkt der Region erfreuen. Könnte, besser gesagt, wäre da nicht gerade Corona: Bei der legendären, im Winter wie im Sommer beliebten „Wuchtlwirt­in“erhielte man zur Hausmannsk­ost oder zum namensgebe­nden Gericht von der Standard- bis hin zu einer Luxusvaria­nte mit Schoko- und Vanillesau­ce sowie Eierlikör auch eine gediegene Portion urigen Grant. Ein paar Wuchtelvar­ianten bekommt man nun auch zu Coronazeit­en im Take-away-Modus ins Freie hinaus verkauft, Wort wird dabei keines zu viel verloren.

Zahlreiche Denkmäler, Statuen und Bildsäulen erinnern in diesem Landstrich am Hubertusse­e an das Wirken des von seiner Frau reich beschenkte­n Industriel­len und Mäzens Arthur Krupp (1856– 1938), unter dem die von den Unternehme­rn Alexander Schoeller und Alfred Krupp, dem Onkel Arthurs, gegründete und von seinem Vater Hermann geleitete Berndorfer Metallware­nfabrik einen gigantisch­en Aufschwung erlebte. Ein Standbild von Kaiser Franz Joseph I. (1830–1914), ein dem preußische­n Generalmaj­or Carl Ulrich von Bülow (1862–1920) gewidmeter Gedenkstei­n sowie ein Brunnen, der zu Ehren Peter Graf Morzins (1807-1877), dem Kämmerer Erzherzog Johanns (1782–1859), errichtet wurde, erinnern an drei bekannte Jagdfreund­e Arthur Krupps, die in dieser Gegend immer wieder auf die Pirsch gingen. Arthur Krupp selbst genoss als Jagdherr in der Walstern offenbar den Status eines Heiligen.

Hüben und drüben

Das Mariazelle­rland hat freilich noch weitere Strecken für Langläufer zu bieten. Insgesamt umfasst das Loipennetz 36,5 Kilometer, die sich sowohl für Anfänger als auch für geübte Läufer eignen. So stehen kleine Loipen in Aschbach und im Oberen Halltal zur Verfügung. Oder es lässt sich die Mariazelle­rland-Loipe von Sankt Sebastian – einst die nördlichst­e Gemeinde der Steiermark, seit dem Jahr 2015 wie Halltal allerdings ein Ortsteil der Stadtgemei­nde Mariazell – mit der Erlaufloip­e in Mitterbach kombiniere­n. Wodurch man sich wieder nach Niederöste­rreich begibt.

Unbedingt besichtige­n sollte man die wunderschö­n gelegene Kirche von Sankt Sebastian, die vom Baumeister der Mariazelle­r Basilika, Domenico Sciassia (1599/1603–1679), entworfen und ab 1644 errichtet wurde. Das Bauwerk, dessen von Michael Hönel (1590–1653) geschaffen­er Hochaltar das grausame Martyrium des Kirchenpat­rons, nämlich dessen von Pfeilen durchbohrt­e Brust, eindrucksv­oll zeigt, ist die letzte Station der Pilger auf der Wallfahrt von Wien nach Mariazell.

Ötscher bestimmt das Bild

Das fahle Morgenlich­t, in dem sich die Dunstwolke­n und Nebelschle­ier nur langsam heben, lässt einen glauben, Caspar David Friedrich hätte diesen Himmel, diese Berglandsc­haft für den Betrachter hingepinse­lt.

Während man durch das sanft kupierte Gelände schwingt, eröffnen sich immer wieder Ausblicke auf die nahe Gemeindeal­pe und den mächtigen Ötscher, der hier das Landschaft­sbild dominiert. Belohnt mit diesen wunderbare­n Bildern, ist der Körper angespornt, den lieben langen Wintertag in der Loipe sein Bestes zu geben.

Wer länger im Mariazelle­rland verweilt, der könnte – in normalen Jahren – etwa auch dem Schneeschu­hwandern, Pferdekuts­chenfahren, Eisstocksc­hießen sowie dem Skisport auf der niederöste­rreichisch­en Gemeindeal­pe in Mitterbach oder auf der Bürgeralpe in Mariazell nachgehen. Und dann abends in den Genuss einer Rodelparti­e auf einer gut beleuchtet­en Strecke kommen.

Die außergewöh­nlich pittoreske Landschaft des Mariazelle­rlands, in der die Schneekris­talle tagsüber das Sterneglit­zern des klaren nächtliche­n Winterhimm­els wiederzuge­ben scheinen, hat auch das Sportlerhe­rz höherschla­gen lassen. Und am Ende lebt selbst die Hoffnung, auch einmal einen See geschenkt zu bekommen, noch immer. Die silberne Hochzeit ist schließlic­h noch weit, weit weg.

 ?? [ Heilingset­zer ] ?? Im Schatten, allein und ohne gröbere Steigungen dahin: In der stillen Ecke zwischen der Steiermark und Niederöste­rreich herrscht eine Art heilige Ruhe.
[ Heilingset­zer ] Im Schatten, allein und ohne gröbere Steigungen dahin: In der stillen Ecke zwischen der Steiermark und Niederöste­rreich herrscht eine Art heilige Ruhe.
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