Wann Frühling ist, sagt die Kastanie
Schweiz. Nicht der Kalender oder die Meteorologen bestimmen in Genf, wann der Winter endlich Geschichte ist. Den Frühlingsbeginn verkündet ein 200 Jahre alter Baum.
Amtlich anerkannt wird der Frühlingsanfang in Genf nur unter einer Bedingung – ein eigens beauftragter Kastanienbaum muss sein erstes Blättchen präsentieren können. Er ist der offizielle Frühlingsverkünder der Stadt. Da können andere Bäume und Sträucher schon knospen, sprießen und grünen, solang der behördlich bestellte Kastanienbaum auf der Promenade de la Treille kahl bleibt, geht der Winter in Genf in die Verlängerung. Erscheint die erste Knospe dann endlich, wird sie mit großem Pomp, Tanz, Musik und Festreden begrüßt. Normalerweise, freilich nicht in Pandemiejahren.
Seit zweihundert Jahren sind die Genfer dieser Tradition treu, und ebenso lang werden die Zeichen der Zeit auch nicht von irgendjemandem festgestellt, sondern vom „sautier“, dem Generalsekretär des Großen Rates. Nur er hat über den Kastanienbaum zu wachen und die städtische Frühlingsstatistik zu führen.
Längste Bank? Ja, Sitzbank!
Wann Sommer ist, bestimmen die Genfer aber allein. Dann fluten sie die La-Treille-Promenade und sitzen auf der längsten Bank der Welt in der Sonne. 120 grün lackierte Meter für eine Verschnaufpause mit Blick auf den Genfer Hausberg Mont Sal`eve. 120 Meter schönstes Multikulti, denn laut Statistik ist jeder Zweite, der auf dieser Bank Platz nimmt, Ausländer – Tourist oder Expat, jedenfalls war das so bis März 2020. Den einen lockte die idyllische Lage zwischen Alpengipfeln und Weinbergen an den größten See der Schweiz, den anderen Businessreisenden hat ein multinationaler Großkonzern in die Stadt geschickt, in der auch die Vereinten Nationen, die Welthandels- und die Weltgesundheitsorganisation ihren europäischen Sitz haben.
Weltoffen war Genf schon immer. Davon kündet auch ein Wehrturm aus dem 16. Jahrhundert auf der Place du Molard. In dessen Mauer ist eine große Gedenktafel eingelassen mit der Inschrift: „Gen`eve, cite´ de refuge – Genf, Stadt der Zuflucht“. Darunter zeigt ein Relief einen kahlköpfigen Mann mit spitzem Kinnbart, der mit ausgebreiteten Armen willkommen geheißen wird und dem Betrachter merkwürdig vertraut vorkommt. Es ist kein Geringerer als – Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt als Lenin.
Russisches Vermächtnis
Der russische Revolutionär lebte mehrere Jahre im Genfer Exil und ließ hier seine radikalen Ideen für den Aufstand der Proletarier reifen. Dass ausgerechnet Lenin zum Sinnbild für Flüchtlinge auserkoren wurde, erscheint paradox. War er es doch, der nach der Oktoberrevolution im Jahr 1917 Millionen Menschen terrorisierte und vor allem Künstler, Ärzte, Adlige und Gelehrte aus Russland verbannte. Wie Lenin einst selbst flüchteten viele von ihnen nach Genf.
Wer diesen Teil der Geschichte nicht kennt, reibt sich staunend die Augen, wenn ihn bei einem Bummel durch die Stadt plötzlich die goldblitzenden Zwiebelkuppeln einer russisch-orthodoxen Kirche blenden. Die Cathedrale´ de l’Exaltation de la Sainte Croix ist die schönste Hinterlassenschaft der russischen Immigranten. Es ist das erste orthodoxe Gotteshaus der Schweiz, entstanden nach den Plänen eines Architekten aus St. Petersburg und finanziert von einem Mitglied der Zarenfamilie. Dostojewski ließ hier seine Tochter taufen.
Im Inneren der Kirche sind Gewölbe, Pfeiler und Wände über und über mit Malereien geschmückt. Die Ikonostase – Grenze zwischen menschlicher und göttlicher Welt – sendet marmorweiße Schimmer in die Düsternis des
Raumes, und flackernde Kerzenflammen spiegeln sich im Blattgold zahlloser Heiligenbilder.
Calvinismus und Kapital
Wenn das Calvin wüsste. Eine russisch-orthodoxe Kirche in seiner Stadt. Der Reformator hatte Genf im 16. Jahrhundert zu einem „protestantischen Rom“gemacht und die Ausübung jeder anderen Glaubensrichtung verboten. Fleiß, Sparsamkeit und Verzicht waren den Calvinisten auferlegt – Tugenden, die einem heute beim Gang durch Genf gewiss nicht mehr in den Sinn kommen. Normalsterbliche können sich in den Luxusläden der Nobelmeile Rue du Rhoneˆ nur den Blick in die Schaufenster leisten, und eine vergleichbare Dichte an Edelrestaurants hat nicht einmal Paris aufzuweisen. Genf ist eine reiche Stadt für Reiche. Wo ist sie hin, die protestantische Ethik? Untergegangen im Überfluss? Reformationsdenkmäler, das Reformationsmuseum und die schmucklose Cathedrale´ Saint Pierre, in der Calvin einst predigte, erinnern immerhin noch an sein Werk.
Den Reformator selbst findet man in der guten Gesellschaft von Robert Musil, Jorge Luis Borges und Jean Piaget, die neben vielen weiteren Künstlern, Politikern, Anwälten und lokalen Berühmtheiten auf dem Cimeti`ere des Rois beerdigt wurden. Der Ehrenfriedhof ist herausragenden Persönlichkeiten vorbehalten, die durch ihre Aktivitäten zum Einfluss von Genf beigetragen haben. 2009 wurde hier Griselidis´ Real,´ die berühmteste Prostituierte der Stadt, beigesetzt, wenige Meter von Calvins Grab entfernt. Es ist nicht ohne Ironie, dass ausgerechnet die selbst ernannte revolutionäre Hure, die für die Rechte von Sexarbeiterinnen kämpfte und Calvins Reformation die Schuld an „der Kastration männlicher Wünsche“gab, im Tod so dicht an den sittenstrengen Calvin heranrücken durfte.
Ein Rivale wächst heran
Aber es passt, denn wie bei einem chemischen Element, das bildlich gesprochen noch freie Stellen hat, an der andere Teilchen andocken müssen, um die Verbindung zu vervollständigen, wäre auch Genf ohne solche Geschichten nicht komplett. Die Russen und die Reformation, der Reichtum und die vielen Fremden, all das würde Genf ebenso fehlen wie der Rivale des offiziellen Frühlingsverkünders. Der wurde 1968 ebenfalls auf der La-Treille-Promenade gepflanzt und konkurriert seitdem mit dem behördlich beauftragten Baum. Dabei legt der Neue regelmäßig einen Frühstart hin und schlägt schon im Dezember aus. Der „verrückte Kastanienbaum“wird er deshalb auch genannt. Verrückt, empfänglicher für den Klimawandel als andere Bäume oder einfach nur näher an der heißen Quelle, die unter der Promenade sprudeln soll? Egal. Hauptsache, Genf hat einen weiteren Lieferanten für gute Geschichten.
Infos: http://ge.ch/grandconseil/ secretariat/marronnier/