Die Presse

Wann Frühling ist, sagt die Kastanie

Schweiz. Nicht der Kalender oder die Meteorolog­en bestimmen in Genf, wann der Winter endlich Geschichte ist. Den Frühlingsb­eginn verkündet ein 200 Jahre alter Baum.

- VON NICOLE QUINT

Amtlich anerkannt wird der Frühlingsa­nfang in Genf nur unter einer Bedingung – ein eigens beauftragt­er Kastanienb­aum muss sein erstes Blättchen präsentier­en können. Er ist der offizielle Frühlingsv­erkünder der Stadt. Da können andere Bäume und Sträucher schon knospen, sprießen und grünen, solang der behördlich bestellte Kastanienb­aum auf der Promenade de la Treille kahl bleibt, geht der Winter in Genf in die Verlängeru­ng. Erscheint die erste Knospe dann endlich, wird sie mit großem Pomp, Tanz, Musik und Festreden begrüßt. Normalerwe­ise, freilich nicht in Pandemieja­hren.

Seit zweihunder­t Jahren sind die Genfer dieser Tradition treu, und ebenso lang werden die Zeichen der Zeit auch nicht von irgendjema­ndem festgestel­lt, sondern vom „sautier“, dem Generalsek­retär des Großen Rates. Nur er hat über den Kastanienb­aum zu wachen und die städtische Frühlingss­tatistik zu führen.

Längste Bank? Ja, Sitzbank!

Wann Sommer ist, bestimmen die Genfer aber allein. Dann fluten sie die La-Treille-Promenade und sitzen auf der längsten Bank der Welt in der Sonne. 120 grün lackierte Meter für eine Verschnauf­pause mit Blick auf den Genfer Hausberg Mont Sal`eve. 120 Meter schönstes Multikulti, denn laut Statistik ist jeder Zweite, der auf dieser Bank Platz nimmt, Ausländer – Tourist oder Expat, jedenfalls war das so bis März 2020. Den einen lockte die idyllische Lage zwischen Alpengipfe­ln und Weinbergen an den größten See der Schweiz, den anderen Businessre­isenden hat ein multinatio­naler Großkonzer­n in die Stadt geschickt, in der auch die Vereinten Nationen, die Welthandel­s- und die Weltgesund­heitsorgan­isation ihren europäisch­en Sitz haben.

Weltoffen war Genf schon immer. Davon kündet auch ein Wehrturm aus dem 16. Jahrhunder­t auf der Place du Molard. In dessen Mauer ist eine große Gedenktafe­l eingelasse­n mit der Inschrift: „Gen`eve, cite´ de refuge – Genf, Stadt der Zuflucht“. Darunter zeigt ein Relief einen kahlköpfig­en Mann mit spitzem Kinnbart, der mit ausgebreit­eten Armen willkommen geheißen wird und dem Betrachter merkwürdig vertraut vorkommt. Es ist kein Geringerer als – Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt als Lenin.

Russisches Vermächtni­s

Der russische Revolution­är lebte mehrere Jahre im Genfer Exil und ließ hier seine radikalen Ideen für den Aufstand der Proletarie­r reifen. Dass ausgerechn­et Lenin zum Sinnbild für Flüchtling­e auserkoren wurde, erscheint paradox. War er es doch, der nach der Oktoberrev­olution im Jahr 1917 Millionen Menschen terrorisie­rte und vor allem Künstler, Ärzte, Adlige und Gelehrte aus Russland verbannte. Wie Lenin einst selbst flüchteten viele von ihnen nach Genf.

Wer diesen Teil der Geschichte nicht kennt, reibt sich staunend die Augen, wenn ihn bei einem Bummel durch die Stadt plötzlich die goldblitze­nden Zwiebelkup­peln einer russisch-orthodoxen Kirche blenden. Die Cathedrale´ de l’Exaltation de la Sainte Croix ist die schönste Hinterlass­enschaft der russischen Immigrante­n. Es ist das erste orthodoxe Gotteshaus der Schweiz, entstanden nach den Plänen eines Architekte­n aus St. Petersburg und finanziert von einem Mitglied der Zarenfamil­ie. Dostojewsk­i ließ hier seine Tochter taufen.

Im Inneren der Kirche sind Gewölbe, Pfeiler und Wände über und über mit Malereien geschmückt. Die Ikonostase – Grenze zwischen menschlich­er und göttlicher Welt – sendet marmorweiß­e Schimmer in die Düsternis des

Raumes, und flackernde Kerzenflam­men spiegeln sich im Blattgold zahlloser Heiligenbi­lder.

Calvinismu­s und Kapital

Wenn das Calvin wüsste. Eine russisch-orthodoxe Kirche in seiner Stadt. Der Reformator hatte Genf im 16. Jahrhunder­t zu einem „protestant­ischen Rom“gemacht und die Ausübung jeder anderen Glaubensri­chtung verboten. Fleiß, Sparsamkei­t und Verzicht waren den Calviniste­n auferlegt – Tugenden, die einem heute beim Gang durch Genf gewiss nicht mehr in den Sinn kommen. Normalster­bliche können sich in den Luxusläden der Nobelmeile Rue du Rhoneˆ nur den Blick in die Schaufenst­er leisten, und eine vergleichb­are Dichte an Edelrestau­rants hat nicht einmal Paris aufzuweise­n. Genf ist eine reiche Stadt für Reiche. Wo ist sie hin, die protestant­ische Ethik? Untergegan­gen im Überfluss? Reformatio­nsdenkmäle­r, das Reformatio­nsmuseum und die schmucklos­e Cathedrale´ Saint Pierre, in der Calvin einst predigte, erinnern immerhin noch an sein Werk.

Den Reformator selbst findet man in der guten Gesellscha­ft von Robert Musil, Jorge Luis Borges und Jean Piaget, die neben vielen weiteren Künstlern, Politikern, Anwälten und lokalen Berühmthei­ten auf dem Cimeti`ere des Rois beerdigt wurden. Der Ehrenfried­hof ist herausrage­nden Persönlich­keiten vorbehalte­n, die durch ihre Aktivitäte­n zum Einfluss von Genf beigetrage­n haben. 2009 wurde hier Griselidis´ Real,´ die berühmtest­e Prostituie­rte der Stadt, beigesetzt, wenige Meter von Calvins Grab entfernt. Es ist nicht ohne Ironie, dass ausgerechn­et die selbst ernannte revolution­äre Hure, die für die Rechte von Sexarbeite­rinnen kämpfte und Calvins Reformatio­n die Schuld an „der Kastration männlicher Wünsche“gab, im Tod so dicht an den sittenstre­ngen Calvin heranrücke­n durfte.

Ein Rivale wächst heran

Aber es passt, denn wie bei einem chemischen Element, das bildlich gesprochen noch freie Stellen hat, an der andere Teilchen andocken müssen, um die Verbindung zu vervollstä­ndigen, wäre auch Genf ohne solche Geschichte­n nicht komplett. Die Russen und die Reformatio­n, der Reichtum und die vielen Fremden, all das würde Genf ebenso fehlen wie der Rivale des offizielle­n Frühlingsv­erkünders. Der wurde 1968 ebenfalls auf der La-Treille-Promenade gepflanzt und konkurrier­t seitdem mit dem behördlich beauftragt­en Baum. Dabei legt der Neue regelmäßig einen Frühstart hin und schlägt schon im Dezember aus. Der „verrückte Kastanienb­aum“wird er deshalb auch genannt. Verrückt, empfänglic­her für den Klimawande­l als andere Bäume oder einfach nur näher an der heißen Quelle, die unter der Promenade sprudeln soll? Egal. Hauptsache, Genf hat einen weiteren Lieferante­n für gute Geschichte­n.

Infos: http://ge.ch/grandconse­il/ secretaria­t/marronnier/

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[ Loris von Siebenthal ] Verlässlic­h seit 1818: der Frühlingsv­erkünder von La Treille.

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