Huch, die leben ja! Jüdisch sein im Land der Täter
Gastbeitrag. Auch wenn heute niemand bestreitet, dass wir ein Problem mit Antisemitismus haben, mangelt es an Interesse an jüdischem Leben.
Als ich 2014 auf einer thailändischen Insel in der Hängematte lag – ein wenig angeschlagen wegen eines antisemitischen Vorfalls, den ich erlebt hatte –, dachte ich: Antisemitismus, das ist aktuell das größte Problem für Juden in Deutschland, aber keiner will es sehen. Der primäre Antisemitismus. Aber auch der sekundäre. Alle behaupteten, es gäbe ihn nicht mehr, seit Hitler sich 1945 im Führerbunker das Leben genommen hatte. Aber das war die größte Lüge, die je erzählt wurde.
Ich dachte auch, es wäre an mir, alles erdenklich Mögliche zu tun, um diese Lüge langfristig zu entlarven. Also erfand ich Lola und Shlomo und Gershom und Hannah und Simon und all die anderen Protagonisten meines Debütromans „Winternähe“, der, ohne dass ich damit je gerechnet hätte, nur ein Jahr später erscheinen würde. In diesem Roman jedenfalls ging es um eben diesen Antisemitismus, den ich an jeder Ecke sah, ohne dass man Antisemiten finden konnte, weil das schließlich niemand sein wollte. Denn Antisemitismus, das war Hitler. Niemals man selbst.
Ich erfand, liegend in der Hängematte, eine komplexe Geschichte, die die Herausforderungen von Juden der Dritten Generation in Deutschland beschrieb. Was es bedeutete, überhaupt Jude zu sein im Land der Täter, wie es ist, wenn man ständig mit antisemitischen Vorurteilen konfrontiert wird, ohne jemals jemanden dafür in die Verantwortung nehmen zu können und was Israel mit alldem zu tun hat. Ein Roman entstand, der als einer der ersten überhaupt, dem Gefühl von vielen jungen Juden und Jüdinnen eine Stimme gab. Das sage ich nicht, um mich hier irgendwie in einem besonders schmeichelnden Licht erscheinen zu lassen, sondern weil es die Wahrheit ist. Als das Buch 2015 veröffentlicht wurde, gab es noch keinen einzigen Antisemitismusbeauftragten in Deutschland. Mittlerweile hat nicht nur jedes Bundesland einen, sondern auch die Bundesregierung selbst und einige separate Stellen wie die Polizei. Das Thema ist in aller Munde, wie man so schön sagt. Antisemitismus-Dokus, Antisemitismus-Texte, Antisemitismus-Bücher und Antisemitismus-Analysen sind seitdem zuhauf entstanden.
Darüber bin ich sehr froh. Sechs Jahre, nachdem ich bei 36 Grad und 80 Prozent Luftfeuchtigkeit diese Geschichte erfand, behauptet niemand mehr, dass wir kein Problem haben, ja dass der Antisemitismus überwunden sei. Das war damals noch anders.
Eine starke Stimme
Im Zuge dieser Entwicklung kristallisierte sich auch eine neue Generation von Juden und Jüdinnen heraus. Eine Generation, die 15 bis 20 Jahre jünger ist als ich, aber dafür viel selbstbewusster mit ihrem Judentum umgeht. Sie ha
ben in den vergangenen Jahren versucht, lautstark über ihre Erfahrungen zu sprechen, auch wenn sie von vielen großen Medienhäusern und dem Fernsehen nach wie vor aus den relevanten Diskussionen zum Thema rausgehalten werden. Deshalb haben sie ihre eigenen Wege gefunden. Sie sind auf Social Media aktiv, engagieren sich institutionell oder politisch, um ihrer Stimme Ausdruck zu verleihen. Gerade weil man nach wie vor versucht, diese Stimme mundtot zu machen. Denn lebende Juden erschüttern selbstverständlich das eigene Narrativ. Sie stellen Fragen, die kein Deutscher hören will. Wie zum Beispiel: Was haben deine Groß- und Urgroßeltern eigentlich zwischen 1933 und 1945 getan? Oder: Warum putzt ihr wie wild Stolpersteine, um dann im nächsten Moment zu behaupten, was die Israelis mit den Palästinensern machen, ist das Gleiche, was die Nazis mit den Juden getan haben? Oder eben: Was wisst ihr eigentlich über Juden?
Das sind selbstverständlich alles rhetorische Fragen, denn die Antworten kennen Juden längst. Sie unterscheiden sich immer nur punktuell. Der Gehalt ist der gleiche: 1. Ich weiß gar nichts über meine Großeltern; oder: meine Oma hat eine Jüdin versteckt und mein Opa war im Widerstand.
2. Mir tut es schrecklich leid, dass die pösen (sic!) Nazis unsere geliebten Juden ermordet haben. Was jetzt alles fehlt in unserer Kultur wegen dieser schrecklichen Sache, aber das ändert natürlich nichts an den Menschenrechtsverletzungen im Nahen Osten.
3. Ich habe ein KZ besucht während meiner Schulzeit und weiß natürlich genau, wie die Verbrechen des NS passieren konnten.
Ehrlich zu sich selbst sein
Nein nein, meine Frage betrifft nicht die toten Juden, sondern die lebenden! Was weißt du über jüdisches Leben, jüdische Kultur, jüdische Traditionen? Über jüdische Lebensrealitäten? Und da sieht es ziemlich mau aus im Life der Deutschen. Weder wissen sie, dass vor 1933 eine halbe Million Juden in Deutschland lebten und nach 1945 bis ca. 1989 nur noch 25.000, noch dass wir Dank der großen Einwanderung aus der ehemaligen UdSSR in den Neunzigern mittlerweile wieder zwischen 150.000 und 200.000 sind. Dass viele von diesen in Deutschland lebenden Juden ursprünglich aus Russland, Amerika oder Israel stammen. Und dass sie sich oftmals gar nicht als religiös praktizierend definieren würden und deshalb auch nicht Deutsche mit jüdischem Glauben sind, wie von nichtjüdischer Seite immer gesagt wird. Ja, dass die jüdische Identität eindeutig über eine religiöse Zugehörigkeit hinausgeht und es sich vielmehr um eine Ethnie, Kultur, ja ein Volk handelt, dem man sich verbunden fühlt. Seit 5781 Jahren nämlich.
Wunsch, Kapitel zu schließen
Und damit niemand merkt, dass die Deutschen nicht nur keine Ahnung haben, sondern ihr Verhältnis zu Juden komplett gaga ist, sollen Juden, also lebende Juden, in diesem Land am besten schweigen. Sonst begriffen die Deutschen schließlich, dass es an ihnen selbst wäre, sich mit der eigenen Pathologie auseinanderzusetzen. Dass es vielleicht ein bisschen merkwürdig ist, wie seit Jahren die Zeitzeugen durch die Talkshows getrieben werden, um gebetsmühlenartig darauf hinzuweisen, dass man es mit den letzten Juden zu tun habe und damit das Ende der Geschichte naht.
Mich beschleicht immer eine böse Ahnung, dass es viel mehr um den tiefen Wunsch geht, das Kapitel endgültig schließen zu können. Ein bisschen wie am Ende einer Liebesbeziehung. Sie wird betrauert, aber gleichzeitig blickt man sehnsüchtig der neu gewonnenen Freiheit entgegen. Doch diese Befreiung wird schon deshalb nicht stattfinden, weil die Zeitzeugen nicht die letzten lebenden Juden Deutschlands sind, sondern die Geschichte von den Folgegenerationen weitererzählt werden wird. Nicht nur, weil das jüdische Tradition ist, sondern weil die Folgegenerationen heute noch unter den transgenerational weitergegebenen Traumata leiden. Denn Verfolgung, Enteignung und Ermordung sind tief in unsere genetischen Codes eingeschrieben.
Die nächsten Jahre jedenfalls werden holprig werden. Denn die jungen, lebenden Juden Deutschlands werden es sich nicht nehmen lassen, ihre Lebenswirklichkeit selbstbestimmt zum Ausdruck zu bringen. Ob die Deutschen wollen oder nicht.