„Anglizismen beschönigen die neue Realität“
Die Sprachwissenschaftlerin Oksana Havryliv untersucht die Auswirkungen der Pandemie auf unseren Wortschatz. Neue Wörter helfen dabei, die Coronarealität zu benennen, aber auch, sie zu verfluchen oder zu verschleiern.
Die Presse: Wie hat Corona unsere Sprache verändert?
Oksana Havryliv: Sehr. Forscherinnen und Forscher haben bislang etwa 1200 neue Wörter und Wortverbindungen um das Thema Corona gesammelt, wie eine Auflistung des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache zeigt. Der größte Teil dieser Wörter sind keine Neologismen, sondern Wörter, deren Häufigkeit stark zugenommen hat, wie „Mund-Nasen-Schutz“, „Test“, „Quarantäne“, „Infektionszahlen“oder „Desinfektionsmittel“. Außerdem sind viele Wörter aus dem medizinischen Bereich in den aktiven täglichen Sprachgebrauch eingegangen. Beispiele dafür sind „Triage“, „Übersterblichkeit“, „PCR-Test“, „Antigen-Test“, „Herdenimmunität“und „Inzidenz“.
Aber die vorhandenen Wörter reichen offenbar nicht aus. Die Möglichkeiten für neue Wortkreationen scheinen unendlich. Unser Alltag bringt tatsächlich gefühlt fast täglich neue Sachverhalte – und die Sprache reagiert darauf. Es besteht die Notwendigkeit, unsere neue Realität zu benennen. Beispiele sind „Online-Gottesdienst“oder „Nasenbohrer-Test“. Im Deutschen sind zusammengesetzte Wörter generell das produktivste Wortbildungsmuster. Diese dominieren auch bei den CoronaNeologismen. Das Wort „Corona“selbst wird dabei häufig als Bestimmungswort zur Bedeutungskonkretisierung genutzt – neutral wie bei „Coronazahlen“oder auch bei negativ konnotierten Wörtern wie „Corona-Albtraum“.
Wie viel davon wird uns nach der Pandemie erhalten bleiben? Meine Hypothese ist, dass „Corona-“als Wortbildungselement im Gegensatz zu anderen pandemiebedingten Neologismen längerfristig in unserem Wortschatz bleibt. Und zwar, indem es desemantisiert ( es verliert im Laufe der Zeit den lexikalischen Inhalt, Anm.) als Intensivierungs-Halbpräfix verwendet wird, analog zu ur-, mega- oder super-. Lockdown, Home-Schooling, Distance Learning – die Pandemie brachte uns auch eine Vielzahl an Anglizismen. Wie kommt’s?
Die Entlehnungen aus dem Englischen erfüllen eine aufwertende oder auch verschleiernde Funktion. Konkret geht es um Sachverhalte, die auf Deutsch nüchtern klingen, wie „Ausgangssperre“und „Heimarbeit“. Es handelt sich also um verschönernde Euphemismen. Übrigens haben wir es im Falle von „Home-Office“mit einem PseudoAnglizismus zu tun, in Großbritannien heißt so das Innenministerium.
Die Sprache verschönert die Coronarealität?
Genau. Und das nicht nur durch Euphemismen! In Krisenzeiten aktiviert die Sprache auch ihre kreativen Potenziale. Es kommt zu Neuschöpfungen wie „Coronoia“oder „Generation Coronials“, das sind Parallelbildungen zu „Paranoia“und „Millennials“. Die Kreativität und der Humor, die sich auf der sprachlichen Ebene äußern, ermöglichen es, die oft als bedrückend empfundene Realität erträglicher darzustellen.
Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung schon seit zwei Jahrzehnten mit Schimpfwörtern. Fluchen wir seit Corona auch anders oder mehr?
Bei verbaler Aggression spielt die kathartische ( läuternde, Anm.) Funktion eine vorrangige Rolle – während der Pandemie mehr denn je. Durch Schimpfen und Fluchen, aber auch durch Nörgeln und Kritisieren können wir negative Gefühle wie Unsicherheit, Wut, Angst oder Ohnmacht, die in der Krise verstärkt auftreten, abreagieren. Außerdem tritt die korporative Funktion von Schimpfen, also das gemeinsame Schimpfen im Freundes- und Familienkreis, vermehrt auf. Diese Art des Schimpfens schweißt zusammen und tröstet. Weitere Funktionen von verbaler Aggression sind Realitätsabwertung, Provokation und Aufheiterung. Das erlaubt uns, uns von der belastenden Realität zu distanzieren.
Auch auf den Demos gegen Corona-Maßnahmen herrscht zum Teil ein recht aggressiver Ton . . . Verbale Aggression kann natürlich auch als Ersatz oder als Provokation zur physischen Aggression betrachtet werden – beides konnte man bei den jüngsten Coronademos beobachten. Darüber hinaus ist die Typologie der „Wutbürger“unter anderem um „Wut-Eltern“und „Wut-Hoteliers“gewachsen.
Hat die Pandemie spezielle Schimpfwörter hervorgebracht? Das bekannteste ist vermutlich „Covidiot“als Wortkreuzung von „Covid“und „Idiot“. Häufig abwertend verwendete Begriffe sind etwa „Aluhutträger“, „Maskenverweigerer“, „Coronaleugner“oder „Impfgegner“. Ich habe auch bedeutungsverschlechternde Prozesse im Vokabular beobachtet. Etwa bei den Begriffen „Querdenker“oder „Balkonklatscher“, die ursprünglich neutral oder sogar positiv konnotiert waren.
Ihre Erstsprache ist Ukrainisch. Beobachten Sie dort ähnliche Sprachphänomene?
„Covidiot“ist ein Internationalismus, den kennt auch das Ukrainische. Eine Besonderheit meiner Muttersprache ist vielleicht, dass das Virus im Alltag oft nicht beim Namen genannt, sondern als „Es“oder „diese Krankheit“bzw. „diese Not“verhüllt wird.
Durch Schimpfen, Fluchen und Nörgeln können wir negative Gefühle, die in der Krise verstärkt auftreten, abreagieren.
Oksana Havryliv, Sprachwissenschaftlerin, Uni Wien