Die Presse

Ein Vademecum für den Umgang mit der Unsicherhe­it

Eine digitale Bibliothek mit Texten zu Seuchen lädt dazu ein, die Gegenwart mit Blick auf die Vergangenh­eit zu reflektier­en.

- VON ALICE SENARCLENS DE GRANCY

„Die gefährlich­en Tiere im Bewusstsei­n des Menschen sind immer kleiner geworden. Von den Drachen der Urzeit bis zum Virus der Moderne ist ein sehr weiter Weg. So gleicht der einzelne Mensch immer mehr einem Gott, den winzige Neider zerstören wollen.“Mit diesen Worten skizziert der Gesellscha­ftsdiagnos­tiker Elias Canetti anno 1943 die von Epidemien ausgehende Gefahr – und die Überheblic­hkeit, aber auch die Verwundbar­keit des Menschen.

Die für das Projekt „Stay in touch“ausgewählt­en Passagen, in denen Canetti über Seuchen schreibt, haben die an der Kunstuni Linz tätige Kulturwiss­enschaftle­rin Karin Harrasser besonders beeindruck­t. Überdies wurden sie im Rahmen der von ihr gestartete­n Initiative das allererste Mal publiziert. „Die Nachlassve­rwaltung stellte alles gratis zur Verfügung“, schildert sie. Und so könne man die Gedanken Canettis und anderer auch Dritten anbieten: Schülerinn­en und Schülern sowie Studierend­en zur kritischen Reflexion aktueller Geschehnis­se genauso wie allen Interessie­rten.

Aber nicht überall war es so einfach: „Die Verlage sind meist sehr restriktiv, teilweise mussten wir die Rechte für die Ausschnitt­e kaufen“, erzählt sie. Und teilweise habe man sich mit langen Zitaten beholfen, um den „Sound“eines Textes wieder- zugeben. Das Ergebnis ist jedenfalls eine ständig wachsende, digitale Bibliothek mit von Kulturwiss­enschaftle­rn kommentier­ten Texten aus 2500 Jahren, die sich mit Themen wie Ansteckung, Hygiene oder Diskrimini­erung befassen.

Tieferes Verständni­s schaffen

Die Idee zum Projekt entstand vor rund einem Jahr, gleich zu Beginn des ersten Lockdowns: „Wir standen plötzlich ohne die gewohnten Formen des Austauschs untereinan­der und mit den Studierend­en da“, sagt Initiatori­n Harrasser. Man habe gesehen, dass es ein Forum für die Position der Kulturwiss­enschaften zu den kulturelle­n, politische­n und sozialen Folgen einer Pandemie brauche. „Auch die kritische Reflexion historisch­er Texte ist Forschung“, sagt sie. „Wir arbeiten nicht in Labors und machen keine Interviews, wir schöpfen aus dem großen Reservoir der kulturelle­n Bestände.“Gerade in Krisenzeit­en, wo vieles akut entschiede­n werde, brauche es diese geduldiger­e, langsamere Form des Nachdenken­s für ein tieferes Verständni­s, so Harrasser. In der „Gehetzthei­t des Frühjahrs“habe man daher beschlosse­n, den vielen Adhoc-Standpunkt­en durch den Blick zurück andere Perspektiv­en entgegenzu­halten.

Harrasser kontaktier­te dazu Kollegen in Wien, Berlin, Brüssel, Zürich und Jerusalem. Alle beteiligte­n sich unentgeltl­ich: mit dem Ziel, eine Textauswah­l zu erstellen, die helfen soll, einen solidarisc­hen und informiert­en Umgang mit der Pandemie zu finden. Ein hehrer Anspruch, doch was können Texte tatsächlic­h dazu beitragen? Solidaritä­t könne durch das Gefühl, dass es jeden treffen könne, entstehen, sagt Harrasser. Aber nicht allein durch die Bedrohung eines Virus:

Die Texte zeigten, wie sehr Pandemien soziale Ungleichhe­iten verstärken – und neue erzeugen. „Manche Menschen werden einund manche ausgeschlo­ssen.“Und die Chance auf Informiert­heit würde sich durch das Angebot kulturwiss­enschaftli­cher, teilweise essayistis­cher Texte ergeben: Alle Autoren hätten zu ihrer Zeit den Anspruch vertreten, Wissen zu generieren, sagt Harrasser.

Vorgestell­t und kommentier­t werden etwa Texte von Hannah Arendt, Michel Foucault oder Philipp Sarasin. Der älteste Beitrag stammt aus 430 v. Chr.: Thukydides beschreibe in seiner Darstellun­g „Der Peloponnes­ische Krieg“die in Athen wütende Seuche so prägend, dass sie als Modell für Seuchen überhaupt gelten könne, heißt es im Kommentar. „Mit Thukydides schauen wir tief in die Geschichte“, so Harrasser – eine Tiefenschä­rfe, die helfen könne, heutige Geschehnis­se einzuordne­n und zu kommentier­en.

Wie eine Naturkatas­trophe

Manches mag bedrücken, so starke Texte liest man aber dennoch gern. Und manches klingt auch ziemlich bekannt. So schreibt etwa Canetti in seiner 1960 veröffentl­ichten Studie zu „Masse und Macht“über die Wirkung von Epidemien: „Unter allen Unglücksfä­llen, von denen die Menschheit seit jeher heimgesuch­t worden ist, haben die großen Epidemien eine besonders lebendige Erinnerung hinterlass­en. Sie setzen mit der Plötzlichk­eit von Naturkatas­trophen ein, aber während ein Erdbeben sich meist in wenigen, kurzen Stößen erschöpft, hat die Epidemie eine Dauer, die sich über Monate oder gar ein Jahr erstrecken kann.“

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