Linke Elite, rechte Elite
Die bloße Existenz von Menschen mit einer Schwäche für Demagogen ist noch keine Erklärung für ihren Erfolg.
Obwohl die kulturelle Macht der autoritären Linken zunimmt, befinden sich die einzigen modernen Intellektuellen, die in westlichen Demokratien echte
politische Macht erlangt haben, auf der Seite, die wir für gewöhnlich als „rechts“bezeichnen. Aus dem Buch „Die Verlockung des Autoritären“.
ie antiken Philosophen hatten ihre Zweifel an der Demokratie. Platon fürchtete „falsche Sätze und hoffärtige Meinungen“der Demagogen und sah in der Volksherrschaft einen möglichen Schritt auf dem Weg zur Tyrannei. Vorkämpfer der amerikanischen Republik erkannten die Gefahr, die korrupte Politiker für die Demokratie darstellen konnten, und dachten gründlich darüber nach, wie Institutionen auszusehen hatten, die dem standhalten. Der Verfassungskongress des Jahres 1787 richtete das Wahlmännergremium ein, um sicherzustellen, dass niemals ein Mann „mit einem Talent für billige Intrige und die Taschenspielereien der Popularität“Präsident der Vereinigten Staaten werden konnte, wie Alexander Hamilton es ausdrückte.
Das Gremium wurde zwar später zum Inbegriff einer überflüssigen Einrichtung – und seit Kurzem auch zum Mechanismus, der kleinen Wählergruppen in einigen Bundesstaaten unverhältnismäßig großes Gewicht verleiht –, doch ursprünglich hatte es einen ganz anderen Zweck: Es sollte eine Art Aufsichtsrat sein, eine Gruppe elitärer Abgeordneter und Großgrundbesitzer, die den Präsidenten wählten und sich dabei nötigenfalls über den Volkswillen hinwegsetzten, um „den Auswüchsen der Demokratie“vorzubeugen. Die totalitäre Persönlichkeit
Hamilton war einer von vielen Amerikanern der britischen Kolonialzeit, die sich in die Geschichte Griechenlands und Roms vertieften, um zu verstehen, wie sich der Verfall einer neuen Demokratie in eine Tyrannei verhindern ließ. John Adams beschäftigte sich auf seine alten Tage noch einmal mit dem römischen Staatsmann Cicero, der den Niedergang der Republik aufhalten wollte, und zitierte ihn in einem Brief an Thomas Jefferson. Diese Männer wollten ihre Demokratie auf dem Fundament von rationaler Debatte, Vernunft und
Kompromiss errichten. Dabei gaben sie sich keinerlei Illusionen über die menschliche Natur hin: Sie wussten, dass der Mensch von seinen „Leidenschaften“fortgerissen werden kann, um ihren altmodischen Ausdruck zu gebrauchen. Sie wussten auch, dass jedes auf Logik und Rationalität aufgebaute System durch Ausbrüche des Irrationalen bedroht ist.
Ihre modernen Nachfolger haben ver
sucht, diese Irrationalität und diese „Leidenschaften“schärfer zu fassen und zu ver
stehen, wer aus welchem Grund besonders für Demagogen anfällig ist. Die Philosophin Hannah Arendt, die sich als Erste mit Totalitarismus auseinandersetzte, beschrieb die „totalitäre Persönlichkeit“als radikal isolierte Menschen, „deren Bindung weder an die Familie noch an Freunde, Kameraden oder Bekannte einen gesicherten Platz in der Welt garantiert. Dass es überhaupt auf der Welt ist und in ihr einen Platz einnimmt, hängt für ein Mitglied der totalitären Bewegung ausschließlich von seiner Mitgliedschaft in der Partei und der Funktion ab, die sie ihm zugeschrieben hat.“Theodor W. Adorno, der vor den Nationalsozialisten in die Vereinigten Staaten geflohen war, vertiefte diesen Gedanken weiter. Unter dem Einfluss von Sigmund Freud suchte er die Ursprünge der autoritären Persönlichkeit in der frühen Jugend, etwa gar in unterdrückten homosexuellen Neigungen.
Unlängst behauptete die Verhaltensökonomin Karen Stenner, die sich seit zwei Jahrzehnten mit der Persönlichkeitsforschung beschäftigt, dass rund ein Drittel der Bevölkerung jedes beliebigen Landes eine autoritäre Veranlagung habe; diesen Begriff zieht sie dem der Persönlichkeit vor, weil er weniger starr ist. Die autoritäre Veranlagung sehnt sich nach Homogenität und Ordnung und kann latent vorhanden sein, ohne sich äußern zu müssen, genau wie ihr Gegenteil, die freiheitliche Veranlagung, die Vielfalt und Unterschiede bevorzugt. Stenners Definition von „Autoritarismus“ ist nicht politisch und nicht deckungsgleich mit „konservativ“. Autoritarismus spricht vielmehr Menschen an, die keine Komplexität aushalten: Diese Veranlagung ist weder „links“noch „rechts“, sondern grundsätzlich antipluralistisch. Sie misstraut Menschen mit anderen Vorstellungen und ist allergisch gegen offen ausgetragene Meinungsverschiedenheiten. Dabei ist es einerlei, ob ihre politischen Ansichten zum Beispiel marxistisch oder nationalistisch sind. Es handelt sich um eine Geisteshaltung, nicht um einen gedanklichen Inhalt.
Die Unterwanderung der Gerichte
Theorien wie diese übersehen allerdings oft ein weiteres entscheidendes Element beim Niedergang der Demokratie und dem Aufkommen der Autokratie. Die bloße Existenz von Menschen mit einer Schwäche für Demagogen oder Diktaturen ist noch keine Erklärung für den Erfolg der Demagogen. Diktatoren wollen herrschen, doch wie erreichen sie den empfänglichen Teil der Öffentlichkeit? Autoritäre Politiker wollen Gerichte unterwandern, um sich selbst mehr Macht zu verschaffen, aber wie überzeugen sie die Wähler davon, diese Veränderung zu akzeptieren? Im alten Rom ließ Caesar mannigfaltige Büsten von sich anfertigen. Autokraten von heute beauftragen die modernen Pendants der alten Bildhauer: Autoren, Intellektuelle, Pamphletschreiber, Blogger, Meinungsmacher, Fernsehproduzenten p und Memeschöpfer, die der Öffen tlichkeit ihr Bild verkaufen.
Autokraten brauchen Leute, die Unruhen anzetteln und die Machtübernahme vorbereiten. Aber daneben brauchen sie auch Leute, die den Jargon der Juristen beherrschen und Rechts- und Verfassungsbruch als Gebot der Stunde verkaufen können. Sie brauchen Leute, die Missstände in Worte fassen, Unzufriedenheit manipulieren, Wut und Angst schüren und Zukunftsvisionen entwerfen können. Sie benötigen mit anderen Worten Angehörige der Bildungselite, die ihnen helfen, einen Krieg gegen die übrigen Angehörigen der Bildungselite vom Zaun zu brechen, selbst wenn es sich dabei um ihre Kommilitonen, Kollegen und Freunde handelt. Der
französische Essayist Julien Benda beschrieb die autoritären Eliten schon 1927 in seinem Buch „La trahison des clercs“(„Der Verrat der Intellektuellen“), lange bevor irgendjemand sonst verstand, welch wichtige Rolle ihnen zukam. Im Vorgriff auf Arendt galt sein Interesse nicht der „totalitären Persönlichkeit“als solcher, sondern den geistigen Wegbereitern des Autoritarismus, den er bereits auf der Linken und Rechten in ganz Europa aufkeimen sah. Er beschrieb die Schreiberlinge der extremen Linken und Rechten, die „Klassenleidenschaften“im Sinne des Sowjetmarxismus oder „nationale Leidenschaften“im Sinne des Faschismus schürten, und warf beiden vor, ihre eigentliche Aufgabe als geistige Elite zu verraten, nämlich die Wahrheitssuche, und sich stattdessen für bestimmte politische Interessen herzugeben. Für sie verwendete er den ironischen Begriff clercs, der neben „Schreiber“auch „Kleriker“bedeutet. Zehn Jahre vor Stalins Großem Terror und sechs Jahre vor der Machtergreifung Hitlers fürchtete Benda bereits, dass zu Politunternehmern und Propagandisten gemauserte Autoren, Journalisten und Essayisten ganze Kulturen zu Gewaltausbrüchen aufstacheln würden. Und so sollte es dann auch kommen.
Apokalyptiker und Zyniker
Natürlich würde sich der Niedergang der freiheitlichen Demokratie heute anders gestalten als in den 1920er- und 1930er-Jahren. Aber wieder wird eine geistige Elite, eine neue Generation von clercs, gebraucht, um ihm den Weg zu bereiten. Um eine Vorstellung vom Westen oder dessen, was manchmal als „freiheitliche westliche Ordnung“bezeichnet wird, zum Einsturz zu bringen, sind Denker, Intellektuelle, Journalisten, Blogger, Schriftsteller und Künstler nötig, die erst unsere Werte aushöhlen und dann ein künftiges System entwerfen. Sie können aus ganz unterschiedlichen Richtungen kommen: In seiner Definition der clercs dachte Benda an linke Ideologen genauso wie an rechte. Beide gibt es nach wie vor.
Autoritäre Befindlichkeiten machen sich zum Beispiel bemerkbar, wenn linke Agitatoren an den Universitäten den Professoren diktieren wollen, was sie zu lehren, und den Studierenden, was sie zu denken haben. Sie machen sich bemerkbar, wenn
Scharfmacher auf Twittermobs es darauf anlegen, Figuren des öffentlichen Lebens oder gewöhnliche Bürger niederzumachen, weil sie gegen ungeschriebene Sprachregelungen verstoßen. Sie machten sich bemerkbar, als intellektuelle Spindoktoren der britischen Labour Party jede Kritik an Jeremy Corbyns Führung unterdrückten, selbst als längst klar war, dass dessen ultralinke Agenda im Land auf Ablehnung stieß, und sie machte sich bemerkbar unter Labour-Aktivisten, die den Antisemitismus innerhalb der Partei erst leugneten und dann kleinredeten.
Doch obwohl die kulturelle Macht der autoritären Linken zunimmt, befinden sich die einzigen modernen Intellektuellen, die in westlichen Demokratien echte politische Macht erlangt haben – die einzigen, die an Kabinettstischen sitzen, an Regierungskoalitionen beteiligt sind und wichtige politische Parteien führen –, auf der Seite, die wir für gewöhnlich als „rechts“bezeichnen. Es handelt sich allerdings um eine besondere Ausprägung der Rechten, die wenig gemein hat mit den politischen Bewegungen, die man in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg unter dieser Bezeichnung zusammenfasste. Die alte Rechte – britische Tories, amerikanische Republikaner, osteuropäische Antikommunisten, deutsche Christdemokraten und französische Gaullisten – hat zwar jeweils eigene Wurzeln, doch als Gruppe bekannten sie sich zumindest bis vor Kurzem nicht nur zur repräsentativen Demokratie, sondern auch zur Glaubensfreiheit, zur Unabhängigkeit der Justiz, zur Presse- und Meinungsfreiheit, zur wirtschaftlichen Integration, zu internationalen Organisationen, zum transatlantischen Bündnis und zur politischen Idee des „Westens“.
Im Gegensatz dazu ist die neue Rechte nicht konservativ und will nichts vom Bestehenden bewahren. In Kontinentaleuropa verachtet sie die Christdemokraten, die zusammen mit ihrer kirchlichen Basis nach dem Albtraum des Zweiten Weltkriegs die Europäische Union aus der Taufe hoben. In den Vereinigten Staaten und Großbritannien hat die neue Rechte mit dem altmodischen Konservatismus Burke’scher Prägung gebrochen, der raschen Veränderungen jeglicher Art misstraut. Sosehr die neuen Rechten die Bolschewiken hassen mögen, haben sie mehr mit ihnen gemein als mit den Konservativen: Sie wollen bestehende Einrichtungen stürzen, umgehen oder aushöhlen und alles Bestehende zerschlagen.
In diesem Buch beschreibe ich diese neue Generation von clercs und die neue Realität, die sie schaffen. Beginnen werde ich bei einigen, die ich in Osteuropa kenne, um dann eine andere, aber parallele Geschichte in Großbritannien zu erzählen, wohin ich enge Bindungen habe, und mit den Vereinigten Staaten zu enden, wo ich geboren wurde, mit einigen Zwischenstationen in anderen Ländern.
Zu den hier beschriebenen Menschen gehören nationalistische Ideologen genauso wie hochgesinnte politische Essayisten; die einen verfassen anspruchsvolle Bücher, andere lancieren Verschwörungstheorien im Internet. Einige werden von derselben Sorge, Wut und Harmoniesucht angetrieben, die auch ihre Leser und Follower beschäftigen. Ein Teil wurde durch Auseinandersetzungen mit der kulturellen Linken radikalisiert oder von der Schwäche der liberalen Mitte abgestoßen. Andere sind Zyniker und bedienen sich einer radikalen und autoritären Rhetorik, weil sie sich davon Macht und Anerkennung erhoffen. Es gibt Apokalyptiker, die überzeugt sind, dass ihre Gesellschaft dem Untergang geweiht ist und gerettet werden muss, egal, wie das Ergebnis aussieht. Einige sind zutiefst religiös. Manche genießen das Chaos und wollen es herbeiführen, um der Gesellschaft eine neue Ordnung aufzuzwingen. Sie alle versuchen ihre Nationen umzudefinieren, Sozialverträge umzuschreiben und manchmal auch die demokratischen Regeln zu ändern, sodass sie nie die Macht verlieren. Alexander Hamilton warnte vor ihnen, Cicero bekämpfte sie. Einige dieser Menschen waren einmal meine Freunde.
Die neuen Rechten wollen bestehende Einrichtungen stürzen, umgehen oder aushöhlen und alles Bestehende zerschlagen.