Die große Wiener Stille.
Wie ungewohnt war der Anblick vor einem Jahr! Leere Autobusse und Straßenbahnen zirkulierten durch die Stadt. Niemand stieg aus, niemand ein. Von Peter Payer.
Wie ungewohnt war der Anblick vor einem Jahr. Leere Autobusse und Straßenbahnen zirkulierten durch die Stadt. Türen öffneten und schlossen sich automatisch. Niemand stieg aus, niemand ein. Aber wie viel Unbelebtheit ist dem öffentlichen Raum zumutbar?
Vielleicht werden wir später einmal, aus der Distanz vieler Jahre, nur mehr von „Wien 2020“sprechen – und alle werden wissen, was gemeint ist. So wie bei „Wien 1938“oder „Wien 1945“. Eine Chiffre genügt, und es entsteht ein kollektives Erinnerungsbild an den Beginn einer der größten Krisen der jüngeren Zeit.
Unerbittlich schreibt sich die CoronaPandemie in die Geschichte der Stadt ein. Blicken wir zurück, offenbart sich die unglaubliche Rasanz und Wechselhaftigkeit der Ereignisse. Wie sehr waren wir vor einem Jahr noch alle motiviert! Beinahe widerspruchslos akzeptierten wir die rigorosen Vorschriften. Ja, fast so etwas wie Abenteuerlust machte sich breit. Geheimnisvolle Neugier auf das so vollkommen andere. Aufmerksam durchstreiften wir die Stadt, registrierten wir ihr verändertes Gesicht, im Zentrum genauso wie in den Außenbezirken. Und zunehmend wurde klar: Es ist ein absoluter Ausnahmezustand. Selten zuvor war der Zusammenhang zwischen Raum und Sozialverhalten so direkt erlebbar, selten zuvor erhielten wir tiefere Einblicke in das eigentliche Wesen Wiens, ja der Stadt an sich. Wie konnte es sein, dass soziale und räumliche Nähe, seit jeher essenzielle Charakteristika von Stadt, fast über Nacht zur Gefahr geworden waren?
Der öffentliche Raum hatte sich grundlegend gewandelt. Abstand und Regulierung bestimmten das Verhalten darin, Angst und Ungewissheit. Neue Begriffe und Sprachbilder tauchten auf und entfalteten ihre formelle wie informelle Wirkungsmacht. Der Begriff „Lockdown“diffundierte in den allgemeinen Sprachgebrauch. Die Stadt wurde einem Stresstest unterzogen wie selten zuvor. Und sie wurde transparenter. Deutlicher als sonst erkannten wir, wo sie gut und wo sie schlecht funktioniert. So lernten wir uns nicht nur als Individuen, sondern auch als gesamtstädtische Gesellschaft besser kennen. Eine lehrreiche urbane Case Study unter Extrembedingungen. Für viele am beeindruckendsten war zunächst die ungewohnte Leere und Ruhe. Da war sie nun, die große „Wiener Stille“, von der Hermann Bahr vor mehr als hundert Jahren gesprochen hatte. Damals freilich mit ironischem Unterton, weil seiner Ansicht nach zu wenig los sei in der Hauptstadt der Donaumonarchie. Jetzt wirkte alles nachhaltig gedämpft. Ein unvertrautes, aber auch irgendwie erleichterndes Aufatmen anstelle des ubiquitären Großstadtrauschens.
Doch wie viel Leere ist dem öffentlichen Raum überhaupt zumutbar? Auch im politischen und psychologischen Sinne. Leere Autobusse und Straßenbahnen zirkulierten durch die Straßen. Türen öffneten und schlossen sich automatisch. Niemand stieg aus, niemand ein. Ein Bild wie in einem absurden Theaterstück. Wir übten uns in die neuen Verhältnisse ein. Die Polizeipräsenz auf der Straße nahm zu. Die Menschen gingen stumm und eilig, wirkten ernst und gefasst, hielten die verordnete Distanz. Am Abend erklang ein neues Geräusch: Händeklatschen hallte durch die Straßen. Verabredet mithilfe der sozialen Medien, markierte der Applaus aus Fenstern und von Balkonen herab die Anerkennung für die vielen Menschen in „systemrelevanten Berufen“.
Balkone als Konzertbühne
Später sollten noch sogenannte Balkonkonzerte hinzukommen. Zu den prominentesten gehörte jenes von Ernst Molden. Der Singer-Songwriter trat wöchentlich auf dem Balkon seiner Wohnung in der Landstraßer Hauptstraße auf, darunter auf der Straße fand sich zahlreiches Stammpublikum ein. Der straßenseitig orientierte Balkon wurde auf diese Weise als Kommunikationsraum wiederbelebt, als Ort der Öffentlichkeit, der kulturellen und politischen Manifestation.
Auch die bisherige Raumverteilung auf den Straßen stand zur Disposition. Fußgänger mieden die oft allzu schmalen Gehsteige und wichen auf die Fahrbahn aus. Ungefährdet in der Mitte der Straße zu gehen, wurde zum Privileg der Krise. Geflissentlich ignorierte man Absperrungen und Bodenmarkierungen, die Dominanz des Autoverkehrs wurde – zumindest partiell – außer Kraft gesetzt. Das Bewusstsein für die Bevorzugung des Automobils im öffentlichen Raum stieg. Die Stadtplanung versuchte diese Hierarchie mit temporären Begegnungszonen und Pop-up-Radwegen aufzulockern. Bei Letzteren gingen die Wogen anfangs so hoch, dass Gegner – wie bei der Praterstraße geschehen – Reißnägel auf die neue Radspur streuten.
Sämtliche Maßnahmen wurden im Verlauf des Jahres zurückgenommen. Und obwohl man sich im Nachhinein durchaus eine klügere Auswahl so mancher Streckenabschnitte gewünscht hätte, blieb doch eine wichtige Erkenntnis: dass eine sinnvolle Änderung des Machtgefüges im öffentlichen Raum möglich ist – ohne das Funktionieren der Stadt damit zu gefährden.
Auch das bauliche Umfeld wurde anders wahrgenommen. Oberflächen, Strukturen, Böden, Ränder und Höhenentwicklungen traten in den Vordergrund. Keine ablenkende Bewegung, kein Gedränge, kein störender Autolärm. Die Stadt war in ihrer puren Materialität erfahrbar – auch im ästhetischen Sinne. Die Physiognomie der modernen Metropole, von Walter Benjamin und Nachfolgern umfassend beschrieben und analysiert, bot sich den Sinnen völlig neu dar. Die Straße, verstanden als „Wohnung des Kollektivs“, wie Benjamin formulierte, lud zu frischer Besichtigung ein.
Doch bei aller Faszination fehlte etwas Entscheidendes: die Menschen. Ihre Abwesenheit ließ die Stadt leblos und steril erscheinen. Raum und Gesellschaft, so wurde einmal mehr klar, gehören untrennbar zusammen. Denn, so der Soziologe Walter Siebel, „räumliche Strukturen als mit sozialer Bedeutung aufgeladene Produkte menschlicher Tätigkeit stehen in Wechselwirkung mit sozialem Handeln“. Fehlt dieses soziale Handeln, fehlt ein wesentlicher Teil der Stadt. Beide Bereiche zusammen machen Urbanität in nuce aus. All das wurde noch gesteigert, als die „gesichtslose Stadt“Gestalt annahm. Mit der Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes verstärkte sich das Einander-fremd-werden, ein Gefühl der emotionalen Orientierungslosigkeit breitete sich aus. Erst mit Beginn des Sommers kehrte wieder ein Stück Normalität in das öffentliche Leben zurück. Die Infektionszahlen sanken auf ein Minimum, der erste Lockdown lief sukzessive aus, und auf den Straßen zeichnete sich ein neues, beinahe italienisches Lebensgefühl ab. Es war ein Akt der Befreiung, angetrieben von einer – vor allem unter Jugendlichen – deutlich erhöhten Wertschätzung des Außenraumes. Sie riefen öffentliche Party-Hotspots ins Leben, mit intensiver Nutzung bis weit in die Nacht hinein. Zum innerstädtischen Zentrum des Feierns avancierte der Karlsplatz, historisch gesehen durchaus ein symbolischer Ort in der Geschichte der Seuchenbekämpfung.
Denn Anlass für die Errichtung der Karlskirche war einst die Ausrottung der Pest im Jahr 1713. Das Gotteshaus wurde denn auch dem Pestheiligen Karl Borromäus geweiht und diente als Grablege für die letzten Pestopfer der Stadt.
Neben dem Karlsplatz erfuhren auch andere Orte eine sichtbare Steigerung ihrer Nutzungsintensität, etwa der Heldenplatz, der Maria-Theresien-Platz, der Burg- und Volksgarten und natürlich der Donaukanal und die Lagerwiesen der Alten Donau. Anfang Juli begann das beliebte Film-Festival am Rathausplatz, diesmal unter dem bezeichnenden Motto „So wie nie“. Eine limitierte Zahl an Besuchern und ausreichend Abstand durch „Logen“für zwei oder vier Personen sollten die Durchführung ermöglichen. Die Absperrgitter um Tische und Sitzgelegenheiten verbreiteten allerdings – nolens volens – Baustellenatmosphäre. Das gewohnte Flair des Open-Air-Kinos wollte sich nicht so recht einstellen.
Sensible Sozialmechanik
Nach der kurzen sommerlichen Erholungsphase verschärfte sich die Situation im Herbst. Angesichts rasant steigender Infektions- und Todeszahlen schien die Aufregung des Frühjahrs fast lächerlich. Abermals war die Fähigkeit zu gleichermaßen effizienter wie sensibler Sozialmechanik gefragt. Doch die gesellschaftliche Lage war längst nicht mehr so einfach. Erschöpfung und Pandemie-Müdigkeit griffen um sich, die Krise wurde zunehmend politisiert. Sichtbarer Höhepunkt der Radikalisierung war die Zerstörung der Open-Air-Ausstellung „Face it!“, die das Wien Museum an seinem Bauzaun am Karlsplatz installiert hatte – großformatige Fotografien von Wienerinnen und Wienern, die von ihren persönlichen Erfahrungen in der Krise berichteten. Die Schau wurde zerstört, war in den Augen der immer zahlreicher werdenden Corona-Gegner pure Provokation. Sie wurde dann ins Internet verlegt. Die verunstalteten Plakate wanderten als Zeitdokumente ins Archiv.
Das Social Distancing ließ immer häufiger eine neue Raumfigur entstehen: Warteschlangen, sonst nur aus Notzeiten oder (post-)sozialistischen Staaten bekannt, begannen das Straßenbild zu prägen. Die Soziologin Martina Löw spricht in diesem Zusammenhang von einer im Raum sichtbar gewordenen „Not-Ordnung“. Diese führte in Wien auch zu neuen Straßenmöbeln. Junge Designbüros entwarfen im Auftrag der Stadt Sitzmöbel mit Mindestabstand, sogenannte Wiener Plaudereckn. Sie wurden in mehreren Bezirken aufgestellt, etwa am Karmeliterplatz, in der Waltergasse oder in der Staudgasse.
Um Weihnachten und Silvester folgte die sozial wohl heikelste Zeit. Ein anstrengendes und extrem forderndes Jahr, so das Resümee vieler Menschen, neigte sich dem Ende zu. Die Statistik für 2020 war ernüchternd: Bis Ende Dezember zählte man in Wien rund 72.300 Infizierte und 1100 Tote.
Seither entspannten sich die Verhältnisse infolge neuer Virusmutationen keineswegs. Mit dem verpflichtenden Tragen von FFP2-Masken nahm die Uniformierung im (halb-)öffentlichen Raum weiter zu. Abermals veränderte sich das Gesicht der Stadt. Das ersehnte Gefühl von Erleichterung und Freiheit lässt weiter auf sich warten.
Was man aus der Krise bislang gelernt hat? Vielleicht das Bewusstsein, welch eminenten Stellenwert der öffentliche Raum für uns alle hat und wie sehr es sich lohnt, darüber nachzudenken, wie er sich künftig präsentieren soll.
Das Social Distancing ließ eine neue Raumfigur entstehen: Warteschlangen, sonst nur aus Notzeiten oder sozialistischen Staaten bekannt.