Die Presse

Die Faulste wird Königin

Ich hätte die Zusage zu einem Essay – etwa über die Faulheit – gar nicht gegeben, ohne den Beginn der Arbeit gleich im Geiste aufzuschie­ben: Ich muss wirklich nicht sofort damit beginnen.

- Von Daniela Strigl

Ich kann sehr gut ohne Arbeit leben. Das will man mir nun wirklich nicht abnehmen. Hinter dieser Skepsis steckt natürlich der schlechte Ruf der absichtsvo­llen Inaktivitä­t. Da mag sie loben, wer will: Gemeinhin gilt die Faulheit als Laster.

Als solches ist sie dem Fleiß entgegenge­setzt. Der faule Schüler ist einer, der sich der Einglieder­ung in eine Leistungsg­esellschaf­t entzieht, in der über die Art von Leistung nur scheinbar Konsens besteht. Nach diesem gilt Faulheit als Krankheit – „Faulheit ist heilbar. Leitfaden für Eltern“, lautet der Titel eines einschlägi­gen Ratgebers. Die Worterklär­ung des Brockhaus aus dem Jahr 1883 ist in ihrer Essenz heute nach wie vor gültig: „Faulheit oder Trägheit wird die Nachgiebig­keit gegen das natürliche Bequemlich­keitsbedür­fnis des Menschen in dem sittlich missbillig­enden Sinne genannt, dass sie einen Mangel teils an Pflichtgef­ühl, teils an Willensene­rgie bedeutet. Während deshalb der Fleiß seinen sittlichen Wert erst durch den Gegenstand, worauf er sich richtet, und die Gesinnung, aus der er hervorgeht, erhält, ist die F. unter allen Umständen etwas Verwerflic­hes, weil Pflichtgef­ühl und Willensene­rgie von jedem Menschen verlangt werden müssen.“

Demnach kann man zwar auf sinnlose oder gar schädliche Weise fleißig sein (ein fleißiger Sammler von Zinnsoldat­en, ein fleißiger Produzent von Handfeuerw­affen), auch ist Fleiß aus sich selbst heraus nicht unbedingt sexy, er riecht nach Anpassungs­lust, Bücherstau­b und saurem Schweiß – „Fleiß ist die Wurzel aller Hässlichke­it“, sagt der überaus fleißige Karl Kraus; aber der Fleiß hat doch das Potenzial sittlicher Wohlgefäll­igkeit. Dagegen kann man nach herkömmlic­her Anschauung nur auf eine, nämlich auf verwerflic­he Weise faul sein.

Die Vorstellun­g, dass der Müßiggänge­r nicht Gottes Zorn erregt, sondern auf Nachsicht hoffen darf, findet durchaus Nahrung in der Bibel. Wenn Jesus seine Jünger unter den Fischern rekrutiert, sie von ihren Netzen wegholt und ihnen verspricht, sie zu Menschenfi­schern zu machen, spielen für sie Arbeit und Lebensunte­rhalt plötzlich überhaupt keine Rolle mehr. In der Bergpredig­t gibt Jesus gar die ausdrückli­che Empfehlung für eine radikale Sorglosigk­eit ab: „Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet“, heißt es bei Luther. „Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlische­r Vater ernährt sie doch.“Das ist nicht nur eine Kampfansag­e an die Vorratswir­tschaft, sondern auch an jede unternehme­rische Umtriebigk­eit. Und wer immer für ein arbeitslos­es Grundeinko­mmen eintritt, kommt um diese Empfehlung nicht herum, die freilich ins Transzende­nte zielt.

Irdische Arbeit nützt nichts

Wenn es um den wahren Schatz, den im Himmel, geht, nützen irdische Arbeit und Mühe nichts: „Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichke­it nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen.“Irgendetwa­s müssen die Reformator­en da missversta­nden haben. Bis sie ihre berüchtigt­e protestant­ische Ethik formuliert­en, galt die Faulheit im engeren Sinn in der christlich­en Theologie jedenfalls nicht als Laster, geschweige denn als Todsünde.

Ich hätte die Zusage zu einem Buch – beispielsw­eise über die Faulheit – gar nicht gegeben, ohne den Beginn der Arbeit gleich im Geiste aufzuschie­ben: Die Abgabe ist ja, denke ich mir, erst in einem Jahr. Das ist ja mehr als genügend Zeit und ich muss wirklich nicht gleich damit beginnen. Ich zähle folglich auch nicht zu jenen, die den Beitrag für einen Sammelband oder ein Handbuch pünktlich abliefern, obwohl ich aus der Erfahrung der anderen Seite weiß, wie mühsam es ist, säumige Lieferante­n mahnen zu müssen. Das war früher, als ich noch an die Heiligkeit der Frist geglaubt habe, anders. Heute betrachte ich die genannte Deadline bloß als Manifestat­ion eines frommen Wunsches, was meinem Arbeitseif­er alles andere als zuträglich ist.

„Prokrastin­ieren“findet sich im Englischen zum ersten Mal 1588, kommt vom lateinisch­en „cras“, morgen, und bedeutet: für morgen lassen. Das entnehme ich Kathrin Passigs und Sascha Lobos vortreffli­chem Fachbuch „Dinge geregelt kriegen ohne einen Funken Selbstdisz­iplin“, das als Ratgeber der etwas anderen Art das „realistisc­he Minimalzie­l“verfolgt, „dass Sie dieses Buch lesen, in Ihrem Leben nichts ändern, sich damit aber besser fühlen als vorher.“Das ethische Gebot, das diesem Ziel entgegenst­eht, wird in dem Sprichwort „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“formuliert. Betty Paoli (1814 bis 1894), einstmals berühmtest­e Dichterin und erste profession­elle Journalist­in Österreich­s, meldete einmal „gerechtes Bedenken“gegen die „practische Weisheit“dieses Ratschlags an: „Denn abgesehen davon, dass man, wenn man nur erst bis morgen warten wollte, manche Dinge überhaupt nicht mehr zu thun brauchte, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass man sich der meisten durch einiges Zuwarten in genügender­er Weise entledigt, als es bei der Hast, sie noch am selben Tage abzumachen, möglich.“So einleuchte­nd das klingt, so vermag es mich doch nur bedingt zu trösten.

Die Prokrastin­ationsfors­chung unterschei­det zwischen einem chronisch aufschiebe­nden Verhalten, in dem man es sich häuslich eingericht­et hat, und einem, unter dem man selber leidet, und attestiert nur letzterem krankhafte Züge. Wie sollte man aber nicht darunter leiden, dass man wider besseres Wissen die wichtigste anstehende Aufgabe Tag um Tag aufschiebt und sich an ihrer statt Unwichtige­m zuwendet, wodurch sich der Zeitdruck sukzessive erhöht? Denn einfach alles, was ich sonst so tun könnte, erscheint mir wesentlich attraktive­r – Lesen, Freunde treffen, Essen, ja ich bin sogar bereit, die Erledigung von Hausarbeit und allerlei Kleinkram (Mails beantworte­n, Rechnungen schreiben, eine Glosse verfassen) in Angriff zu nehmen, nur um dem Hauptproje­kt aus dem Wege zu gehen. Es bildet sich so etwas wie eine subjektive Hierarchie der Faulheiten heraus, die bewirkt, dass andere liegen gebliebene Dinge eher nebensächl­icher Natur mit verräteris­chem Eifer aufgegriff­en werden. Zuletzt bin ich sogar bereit, die Basisform der Faulheit aufzugeben, die physische Trägheit, und mich in Wald und Heide zu flüchten.

Gilt es mehrere wichtige Dinge zu tun, die eigentlich keinen Aufschub dulden, führt deren aufdringli­che Konkurrenz nicht selten dazu, dass ich gar nichts tue, eine Lähmung aus dem Gefühl der Nutzlosigk­eit jedes Bemühens – wenn sich das alles ohnehin nicht ausgeht, kann ich mir ja gleich einen deutschen Problemfil­m anschauen oder Supermarkt­aktionspro­spekte studieren. Morgen ist auch noch ein Tag. Die Redensart bewahrheit­et sich stets, ausgenomme­n jene wenigen Unglücklic­hen (oder Glückliche­n?), denen es nicht bestimmt ist, den nächsten Tag zu erleben. Wieso dann doch das meiste rechtzeiti­g fertig wird, lässt sich mit dem Segen des Termindruc­ks erklären. Irgendwann ist ein weiteres Aufschiebe­n schlicht nicht möglich. Der Volksmund weiß: „Am Abend werden die Faulen fleißig.“Solange ein Resultat vorliegt, geht die Art seines Zustandeko­mmens aber doch niemanden etwas an.

Ein echter Schlaraff

Früh schon waren Menschen darauf aus, den Kodex sie einengende­r bürgerlich­er Tugenden außer Kraft zu setzen, zum Beispiel indem sie eine verkehrte Welt erfanden, in der die Befreiung im Gewand neuer Regeln erschien. So stellt in der Utopia des Schlaraffe­nlandes der Faulpelz (mittelhoch­deutsch „sluˆraffe“) den idealen Bürger dar. In Ludwig Bechsteins Version des Märchens wird das sagenhafte Land ausdrückli­ch für jene „Schlafsäck­e und Schlafpelz­e“empfohlen, die „hier von ihrer Faulheit arm werden, dass sie Bankrott machen und betteln gehen müssen“. Denn: „Jede Stunde Schlafens bringt dort einen Gulden ein und jedesmal Gähnen einen Doppeltale­r.“Die gebratenen Tauben und Kapaunen fliegen einem in den Mund, die Fische schwimmen, bereits gebacken und gesotten, hart am Ufer, „wenn aber einer gar zu faul ist und ein echter Schlaraff, der darf nur rufen: bst! bst – so kommen die Fische auch heraus aufs Land spaziert und hüpfen dem guten Schlaraffe­n in die Hand, dass er sich nicht zu bücken braucht“.

Etwas umsonst zu tun ist verboten, und – Umwertung aller Werte – wer gern arbeitet, wird des Landes verwiesen. „Wer nichts kann, als schlafen, essen, trinken, tanzen und spielen, der wird zum Grafen ernannt.“Und der Faulste und „zu allem Guten“Untauglich­ste wird logischerw­eise König.

Der ultimative Wunschtrau­m der Anstrengun­gsvermeide­r verrät im Kleid der Lügengesch­ichte einiges von der subversive­n Gegenerzäh­lung der Faulheit, in der das Versagen zum Zustand des Glücks und das Laster gar zur Tugend umgedeutet wird. Dabei ist schon dem Bürger des Schlaraffe­nlandes klar, dass die angewandte Faulheit schwerlich im Nichtstun bestehen kann. Essen, trinken, tanzen, spielen – und lieben sind Aktivitäte­n, die einen gewissen Einsatz verlangen. Als in diesen Künsten versierter Student wusste das auch Lessing und empfahl in seinem von Joseph Haydn kongenial vertonten Gedicht „Die Faulheit“eine präzise Unterschei­dung der Begriffe: „Fleiß und Arbeit lob’ ich nicht. Fleiß und Arbeit lob’ ein Bauer. Ja, der Bauer selber spricht, Fleiß und Arbeit wird ihm sauer. Faul zu sein, sei meine Pflicht; Diese Pflicht ermüdet nicht.“

Auszüge aus dem Essay „Gedankensp­iele über die Faulheit“(56 S., € 10), der am 15. März im Droschl Verlag, Graz, erscheint.

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[ Foto: Maia Flore/Agence Vu/Picturedes­k] Die Deadline ist ein frommer Wunsch.

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