Die Faulste wird Königin
Ich hätte die Zusage zu einem Essay – etwa über die Faulheit – gar nicht gegeben, ohne den Beginn der Arbeit gleich im Geiste aufzuschieben: Ich muss wirklich nicht sofort damit beginnen.
Ich kann sehr gut ohne Arbeit leben. Das will man mir nun wirklich nicht abnehmen. Hinter dieser Skepsis steckt natürlich der schlechte Ruf der absichtsvollen Inaktivität. Da mag sie loben, wer will: Gemeinhin gilt die Faulheit als Laster.
Als solches ist sie dem Fleiß entgegengesetzt. Der faule Schüler ist einer, der sich der Eingliederung in eine Leistungsgesellschaft entzieht, in der über die Art von Leistung nur scheinbar Konsens besteht. Nach diesem gilt Faulheit als Krankheit – „Faulheit ist heilbar. Leitfaden für Eltern“, lautet der Titel eines einschlägigen Ratgebers. Die Worterklärung des Brockhaus aus dem Jahr 1883 ist in ihrer Essenz heute nach wie vor gültig: „Faulheit oder Trägheit wird die Nachgiebigkeit gegen das natürliche Bequemlichkeitsbedürfnis des Menschen in dem sittlich missbilligenden Sinne genannt, dass sie einen Mangel teils an Pflichtgefühl, teils an Willensenergie bedeutet. Während deshalb der Fleiß seinen sittlichen Wert erst durch den Gegenstand, worauf er sich richtet, und die Gesinnung, aus der er hervorgeht, erhält, ist die F. unter allen Umständen etwas Verwerfliches, weil Pflichtgefühl und Willensenergie von jedem Menschen verlangt werden müssen.“
Demnach kann man zwar auf sinnlose oder gar schädliche Weise fleißig sein (ein fleißiger Sammler von Zinnsoldaten, ein fleißiger Produzent von Handfeuerwaffen), auch ist Fleiß aus sich selbst heraus nicht unbedingt sexy, er riecht nach Anpassungslust, Bücherstaub und saurem Schweiß – „Fleiß ist die Wurzel aller Hässlichkeit“, sagt der überaus fleißige Karl Kraus; aber der Fleiß hat doch das Potenzial sittlicher Wohlgefälligkeit. Dagegen kann man nach herkömmlicher Anschauung nur auf eine, nämlich auf verwerfliche Weise faul sein.
Die Vorstellung, dass der Müßiggänger nicht Gottes Zorn erregt, sondern auf Nachsicht hoffen darf, findet durchaus Nahrung in der Bibel. Wenn Jesus seine Jünger unter den Fischern rekrutiert, sie von ihren Netzen wegholt und ihnen verspricht, sie zu Menschenfischern zu machen, spielen für sie Arbeit und Lebensunterhalt plötzlich überhaupt keine Rolle mehr. In der Bergpredigt gibt Jesus gar die ausdrückliche Empfehlung für eine radikale Sorglosigkeit ab: „Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet“, heißt es bei Luther. „Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch.“Das ist nicht nur eine Kampfansage an die Vorratswirtschaft, sondern auch an jede unternehmerische Umtriebigkeit. Und wer immer für ein arbeitsloses Grundeinkommen eintritt, kommt um diese Empfehlung nicht herum, die freilich ins Transzendente zielt.
Irdische Arbeit nützt nichts
Wenn es um den wahren Schatz, den im Himmel, geht, nützen irdische Arbeit und Mühe nichts: „Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen.“Irgendetwas müssen die Reformatoren da missverstanden haben. Bis sie ihre berüchtigte protestantische Ethik formulierten, galt die Faulheit im engeren Sinn in der christlichen Theologie jedenfalls nicht als Laster, geschweige denn als Todsünde.
Ich hätte die Zusage zu einem Buch – beispielsweise über die Faulheit – gar nicht gegeben, ohne den Beginn der Arbeit gleich im Geiste aufzuschieben: Die Abgabe ist ja, denke ich mir, erst in einem Jahr. Das ist ja mehr als genügend Zeit und ich muss wirklich nicht gleich damit beginnen. Ich zähle folglich auch nicht zu jenen, die den Beitrag für einen Sammelband oder ein Handbuch pünktlich abliefern, obwohl ich aus der Erfahrung der anderen Seite weiß, wie mühsam es ist, säumige Lieferanten mahnen zu müssen. Das war früher, als ich noch an die Heiligkeit der Frist geglaubt habe, anders. Heute betrachte ich die genannte Deadline bloß als Manifestation eines frommen Wunsches, was meinem Arbeitseifer alles andere als zuträglich ist.
„Prokrastinieren“findet sich im Englischen zum ersten Mal 1588, kommt vom lateinischen „cras“, morgen, und bedeutet: für morgen lassen. Das entnehme ich Kathrin Passigs und Sascha Lobos vortrefflichem Fachbuch „Dinge geregelt kriegen ohne einen Funken Selbstdisziplin“, das als Ratgeber der etwas anderen Art das „realistische Minimalziel“verfolgt, „dass Sie dieses Buch lesen, in Ihrem Leben nichts ändern, sich damit aber besser fühlen als vorher.“Das ethische Gebot, das diesem Ziel entgegensteht, wird in dem Sprichwort „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“formuliert. Betty Paoli (1814 bis 1894), einstmals berühmteste Dichterin und erste professionelle Journalistin Österreichs, meldete einmal „gerechtes Bedenken“gegen die „practische Weisheit“dieses Ratschlags an: „Denn abgesehen davon, dass man, wenn man nur erst bis morgen warten wollte, manche Dinge überhaupt nicht mehr zu thun brauchte, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass man sich der meisten durch einiges Zuwarten in genügenderer Weise entledigt, als es bei der Hast, sie noch am selben Tage abzumachen, möglich.“So einleuchtend das klingt, so vermag es mich doch nur bedingt zu trösten.
Die Prokrastinationsforschung unterscheidet zwischen einem chronisch aufschiebenden Verhalten, in dem man es sich häuslich eingerichtet hat, und einem, unter dem man selber leidet, und attestiert nur letzterem krankhafte Züge. Wie sollte man aber nicht darunter leiden, dass man wider besseres Wissen die wichtigste anstehende Aufgabe Tag um Tag aufschiebt und sich an ihrer statt Unwichtigem zuwendet, wodurch sich der Zeitdruck sukzessive erhöht? Denn einfach alles, was ich sonst so tun könnte, erscheint mir wesentlich attraktiver – Lesen, Freunde treffen, Essen, ja ich bin sogar bereit, die Erledigung von Hausarbeit und allerlei Kleinkram (Mails beantworten, Rechnungen schreiben, eine Glosse verfassen) in Angriff zu nehmen, nur um dem Hauptprojekt aus dem Wege zu gehen. Es bildet sich so etwas wie eine subjektive Hierarchie der Faulheiten heraus, die bewirkt, dass andere liegen gebliebene Dinge eher nebensächlicher Natur mit verräterischem Eifer aufgegriffen werden. Zuletzt bin ich sogar bereit, die Basisform der Faulheit aufzugeben, die physische Trägheit, und mich in Wald und Heide zu flüchten.
Gilt es mehrere wichtige Dinge zu tun, die eigentlich keinen Aufschub dulden, führt deren aufdringliche Konkurrenz nicht selten dazu, dass ich gar nichts tue, eine Lähmung aus dem Gefühl der Nutzlosigkeit jedes Bemühens – wenn sich das alles ohnehin nicht ausgeht, kann ich mir ja gleich einen deutschen Problemfilm anschauen oder Supermarktaktionsprospekte studieren. Morgen ist auch noch ein Tag. Die Redensart bewahrheitet sich stets, ausgenommen jene wenigen Unglücklichen (oder Glücklichen?), denen es nicht bestimmt ist, den nächsten Tag zu erleben. Wieso dann doch das meiste rechtzeitig fertig wird, lässt sich mit dem Segen des Termindrucks erklären. Irgendwann ist ein weiteres Aufschieben schlicht nicht möglich. Der Volksmund weiß: „Am Abend werden die Faulen fleißig.“Solange ein Resultat vorliegt, geht die Art seines Zustandekommens aber doch niemanden etwas an.
Ein echter Schlaraff
Früh schon waren Menschen darauf aus, den Kodex sie einengender bürgerlicher Tugenden außer Kraft zu setzen, zum Beispiel indem sie eine verkehrte Welt erfanden, in der die Befreiung im Gewand neuer Regeln erschien. So stellt in der Utopia des Schlaraffenlandes der Faulpelz (mittelhochdeutsch „sluˆraffe“) den idealen Bürger dar. In Ludwig Bechsteins Version des Märchens wird das sagenhafte Land ausdrücklich für jene „Schlafsäcke und Schlafpelze“empfohlen, die „hier von ihrer Faulheit arm werden, dass sie Bankrott machen und betteln gehen müssen“. Denn: „Jede Stunde Schlafens bringt dort einen Gulden ein und jedesmal Gähnen einen Doppeltaler.“Die gebratenen Tauben und Kapaunen fliegen einem in den Mund, die Fische schwimmen, bereits gebacken und gesotten, hart am Ufer, „wenn aber einer gar zu faul ist und ein echter Schlaraff, der darf nur rufen: bst! bst – so kommen die Fische auch heraus aufs Land spaziert und hüpfen dem guten Schlaraffen in die Hand, dass er sich nicht zu bücken braucht“.
Etwas umsonst zu tun ist verboten, und – Umwertung aller Werte – wer gern arbeitet, wird des Landes verwiesen. „Wer nichts kann, als schlafen, essen, trinken, tanzen und spielen, der wird zum Grafen ernannt.“Und der Faulste und „zu allem Guten“Untauglichste wird logischerweise König.
Der ultimative Wunschtraum der Anstrengungsvermeider verrät im Kleid der Lügengeschichte einiges von der subversiven Gegenerzählung der Faulheit, in der das Versagen zum Zustand des Glücks und das Laster gar zur Tugend umgedeutet wird. Dabei ist schon dem Bürger des Schlaraffenlandes klar, dass die angewandte Faulheit schwerlich im Nichtstun bestehen kann. Essen, trinken, tanzen, spielen – und lieben sind Aktivitäten, die einen gewissen Einsatz verlangen. Als in diesen Künsten versierter Student wusste das auch Lessing und empfahl in seinem von Joseph Haydn kongenial vertonten Gedicht „Die Faulheit“eine präzise Unterscheidung der Begriffe: „Fleiß und Arbeit lob’ ich nicht. Fleiß und Arbeit lob’ ein Bauer. Ja, der Bauer selber spricht, Fleiß und Arbeit wird ihm sauer. Faul zu sein, sei meine Pflicht; Diese Pflicht ermüdet nicht.“
Auszüge aus dem Essay „Gedankenspiele über die Faulheit“(56 S., € 10), der am 15. März im Droschl Verlag, Graz, erscheint.