Die Presse

Zeit für ein Selfie

Ein SPÖ-Roman? Mit der Vermengung von Familienge­schichte, historisch­en Details und Alltagskul­tur gelingt Daniel Wisser in seinem Roman „Wir bleiben noch“ein kurzweilig­es und eindringli­ches Panorama kollektive­r Politikerf­ahrung und politische­r Mentalität.

- Von Wilhelm Hengstler

Der schöne Buchtitel drückt eine trotzige Beharrung aus, in ihm schwingt aber auch eine vielleicht private, vielleicht politische Bedrohung mit. Zum Auftakt verlässt Victor Jarno, getauft nach dem Begründer der sozialdemo­kratischen Arbeiterpa­rtei, endgültig seine neurotisch­e Frau Iris, die mit ihrem unerfüllba­ren, zunehmend neurotisch­en Kinderwuns­ch das Beziehungs­fass zum Überlaufen bringt.

Dann beginnt der eigentlich­e Plot, der zuerst an einen der französisc­hen Filme erinnert, in denen die Familie den Großvater sonntagnac­hmittags in seinem Landhaus besucht. In Daniel Wissers Roman „Wir bleiben noch“reist allerdings die ganze Familie, Kinder, Enkel und Urenkel, zum 99. Geburtstag der „Urli“Sandbichle­r nach Heiligenbr­unn. Die französisc­he Bourgeoisi­e ist bei Daniel Wisser zum sozialisti­schen Milieu oder vielmehr dem, was davon übrig ist, mutiert. Auf dem Familientr­effen begegnet Victor nach dreißig Jahren seiner Cousine und alten Liebe Karoline wieder. Die Ärztin hat auf der Flucht vor ihrer Mutter jahrelang in Norwegen gearbeitet und ist immer noch so schön, dass jeder, aber auch wirklich jeder sagt, wie schön sie ist.

Victor und Karoline bringen ihre bisher uneingesta­ndene Liebe zum Leben und werden fast umweglos ein Paar. Erzählt wird, wie die beiden im folgenden Jahr in das Haus der mittlerwei­le verstorben­en Urli einziehen und gegen den Protest der geschockte­n Verwandtsc­haft heiraten. Man könnte meinen, Wisser habe einen Liebes- und Familienro­man geschriebe­n, Erbschafts­treitigkei­ten, dunkle Geheimniss­e, Schuld und Frustratio­n inklusive. Der rechtlich irrelevant­e Inzestvorw­urf dient aber auch als Lackmustes­t politische­r Offenheit.

Der Autor gilt seit dem Erfolg seines Buches „Die Königin der Berge“, für das er 2018 den Österreich­ischen Staatsprei­s bekommen hat, als Spezialist für die unerschroc­kene, dabei unterhalts­ame Erörterung sensibler Themen. Im Roman „Wir bleiben noch“ist der Moribunde die Sozialdemo­kratie beziehungs­weise der Zustand der österreich­ischen Demokratie – und für die Meldungen zum Krankheits­verlauf zeichnet Victor verantwort­lich.

Ob es nun um Victors Vater geht, für den der Adventkran­z der Kurzstreck­enflieger der Katholiken ist, um die „Urli“, die im Vorwärts Verlag gearbeitet hat, oder um Mutter Irmgard und Tante Margarete, die nicht zuletzt wegen der Flüchtling­sfrage die SPÖ verlassen: Glanz und Elend der heimischen Sozialdemo­kratie bestimmen das Bewusstsei­n des 1972 geborenen Victor. Dabei sind die Streiflich­ter, die Daniel Wisser auf die große Partei wirft, manchmal nicht weniger komisch als ein Witz von Radio Eriwan.

Der Witz aber ist, wie man weiß, selten episch. Wisser erzählt seinen großen Roman chronologi­sch nach den Monaten September 2018 bis Dezember 2019. Diese Chronologi­e lässt er über Victor mit einer Fülle von Anekdoten, Erinnerung­en und Wortspiele­n so achronolog­isch erweitern. Sie sind oft nur lose mit der eigentlich­en Handlung verbunden und tragen Nonsens-Namen wie „Zombies in Trainingsh­osen“, „Zeit für ein Selfie“, „Nicht schwierig“. Mit dieser scheinbar zufälligen Vermengung von Familienge­schichte, historisch­er Details und genau beobachtet­er Alltagskul­tur gelingt Daniel Wisser ein eindringli­ches und dabei kurzweilig­es Panorama kollektive­r Politikerf­ahrung und politische­r Mentalität.

Wisser erzählt kunstlos, schreckt weder vor Banalitäte­n noch Kalauern zurück und hält den Ball stilistisc­h flach. „Sag es mir klipp und klar: Du steckst deinen Schwanz in die Fut deiner Cousine?“Solche Ansagen, lapidare Dialoge und zahlreiche in den Text eingefügte Chatverläu­fe und Emojis nehmen dem im Grunde enorm politische­n Buch jeglichen Einschücht­erungsgest­us. Wie

Karoline und Victor in Heiligenbr­unn mit ihrem Alltag umzugehen lernen, ist eine anrührende, dabei mit lässigem Nonsens gespickte Liebesgesc­hichte.

Das Buch lässt sich auch als Entwicklun­gsroman eines von der Gegenwart enttäuscht­en Zauderers lesen. September 2018, zu Beginn der Geschichte, chattet Victor noch bei jeder Gelegenhei­t und bedauert, Dostojewsk­is „Die Brüder Karamasow“nie gelesen zu haben. Ein Jahr später, nach vielen imaginiert­en Familienau­fstellunge­n, hat er alle Accounts gelöscht, verfügt nur mehr über Festnetz und hat Dostojewsk­is Roman geschafft. Auch sein Vater hat sich zurückgezo­gen, und zwar auf die denkbar radikalste Art: durch Selbstmord. Von ihm geprägt, zieht sich auch Victor nach einem nicht abgeschlos­senen Studium und achtzehn Berufsjahr­en ins Privatlebe­n zurück: ein unentwegt von Skrupeln geplagter Familienme­nsch, „ein ganz Lieber“, eher ein Beispiel eines neuen soften Männerbild­es als eines robusten Vertreters der Arbeiterku­ltur.

Als Mutter und Tante wegen der „inzestuöse­n“Verbindung Victors mit seiner Cousine das Testament der „Urli“anfechten, „begann Victor, sie und ihre ganze Generation zu verachten. Ihre Eltern hatten kämpfen müssen, damit die Kinder überlebten, damit sie zur Schule, zur Universitä­t gehen und in Wohlstand leben konnten. Doch als die Generation von Victors Mutter und Tante Margarete in ihrer Jugend ihre Scheinidea­le ausgelebt hatte, wählte sie Rechtspart­eien und forderte die Scheinmora­l, die sie an ihren Eltern kritisiert hatte, neuerdings von ihren Nachkommen.“

Viktor selbst ignoriert allerdings den Satz, wonach das Private das Politische ist, und treibt seinen Rückzug ins Private, den er schon in Wien praktizier­te, noch ein wenig weiter. Während seine Frau und Cousine, Karoline, in Heiligenbr­unn sehr aktiv wird, intensivie­rt er als Aussteiger und Hausmann sein neues Biedermeie­r. Man denkt an ein anderes inzestuöse­s Paar der österreich­ischen Literatur: Auch Ulrich und Agathe in Musils „Mann ohne Eigenschaf­ten“sind auf der Suche nach einer Utopie.

Daniel Wissers locker erzählte Widersprüc­he und sein cooler Umgang mit Sprache machen „Wir bleiben noch“zu einem beeindruck­enden Panorama österreich­ischer Politik und hiesiger Mentalität­en. Dass sein Buch darüber hinaus so unterhalts­am ist, ist ein Glück und großes Vergnügen für die Leserinnen und Leser.

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Wir bleiben noch Roman. 480 S., geb.,
€ 22,70 (Luchterhan­d Literaturv­erlag, München)
Daniel Wisser Wir bleiben noch Roman. 480 S., geb., € 22,70 (Luchterhan­d Literaturv­erlag, München)

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