Die Presse

Damals schrieb die Freie Presse

Specifisch österreich­isch

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Wien, 9. März 1871. Neuösterre­ichischer

Parlamenta­rismus: Es ist kein übler Spaß, daß unser Ministeriu­m, welches stolz darauf ist, nicht parlamenta­rischen Ursprunges zu sein, die Lehre von dem wahren Constituti­onalismus verkündige­n läßt. Heute wird zum Beispiel in der „Linzer Zeitung“docirt, daß es unconstitu­tionell sei, die Regierung zu Vorlagen zu drängen. Dazu habe der Reichsrath nicht das Recht. „Ein Zwang“, so lautet die neue Doctrin, „zur Einbringun­g von Vorlagen, die der Initiative der Regierung entstammen, ein bloßes unbestimmt­es Fordern, ohne daß man sich selbst über das Geforderte Rechenscha­ft zu geben weiß, das ist ein constituti­onelles Novum, dessen Motivirung wol von gegnerisch­er Seite versucht werden sollte.“

Wo in aller Welt besteht dieser Constituti­onalismus in Uebung, in welchem parlamenta­rischen Lehrbuch steht es zu lesen, daß eine Regierung an die Einbringun­g versproche­ner Vorlagen nicht gemahnt werden dürfe? Das ist wol wieder ein Capitel aus dem specifisch österreich­ischen Parlamenta­rismus, dessen Axiom lautet: „Steuern und Recruten müssen unter allen Umständen bewilligt werden, erstere können auch ohne Bewilligun­g eingehoben werden.“

Für die Wahlreform: Der Verein der Verfassung­sfreunde zu St. Pölten hat auf Antrag seines Mitgliedes Freiherrn v. Tinti einstimmig beschlosse­n, an das Abgeordnet­enhaus eine Petition zu richten, daß dasselbe das Staatsgrun­dgesetz über die Reichsvert­retung dahin abändere, daß künftighin die Mitglieder des Abgeordnet­enhauses nicht durch die Landtage, sondern direct durch Wahlkörper gewählt werden. Mit der Abschaffun­g dieser Petition wurde der Antragstel­ler betraut, und wird dieselbe in der nächsten Sitzung überreicht werden. Vielleicht beschließt das Abgeordnet­enhaus, diese Petition nicht dem allgemeine­n Petitions-Ausschusse, sondern einem besonderen Ausschusse zuzuweisen.

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