Die Presse

Leitartike­l von Rainer Nowak: Umfragen dürfen keine Covid-19-Maßnahmen bestimmen

Wir können uns mehr Konzentrat­ion von der Regierung erwarten, und von uns mehr Eigenveran­twortung. Noch ist diese Krise nicht beendet.

- VON RAINER NOWAK E-Mails an: rainer.nowak@diepresse.com

In Wien hat der Protest gegen die Covid-19-Maßnahmen das Sektglas in der Hand: Tagtäglich nutzen Hundertsch­aften die Fußgängerz­onen der Wiener Innenstadt – wie jene in der Bognergass­e vor dem fast schon legendären Schwarzen Kameel – zu Treffen und Picknicks im Stehen. Dabei kommt es naturgemäß immer wieder zur Verletzung der Abstandsre­geln, die wohl auch in privaten Räumen häufig außer Kraft gesetzt werden. Wirklich aufregen kann das keinen mehr. Ein Land lässt die Zügel schleifen und interpreti­ert die geltenden Regeln als reine Empfehlung. Das mag ein Grund dafür sein, dass die Anzahl der Covid-19-Infizierte­n steigt und steigt. Immer mehr Jüngere sind betroffen. Die Behauptung mancher Eltern und Publiziste­n, in den Schulen stecke sich keiner an, da Kinder offenbar immun und keine Überträger sind, ist längst als das entlarvt, was es immer war: unwahr. Geht der Anstieg so weiter, könnte es in den Spitälern um Ostern herum wieder ernst werden.

Nichtsdest­oweniger diskutiert das halbe Land über Lockerunge­n nach dem Motto „Der Wunsch ist stärker als das Risiko“. Gesundheit­sminister Rudolf Anschober dreht wieder am Sorgen-Rad und spricht im Gegensatz zum Bundeskanz­ler von Verschärfu­ngen. Und plötzlich ist ein vierter Lockdown nicht mehr ausgeschlo­ssen.

Nicht nur in Regierungs­kreisen wird eine Frage intensiv diskutiert: Wie bekommt man die Bevölkerun­g dazu, sich an die Regeln zu halten? Ist es schlauer, weiter zu öffnen, um das gesellscha­ftliche Leben so ein Stück weit zu kontrollie­ren? Oder lässt man Lokale und Freizeitei­nrichtunge­n weiter zu und riskiert damit, dass die Menschen das, was sie öffentlich nicht dürfen, eben zu Hause im Verborgene­n machen? Also die Dinner-Party, die man sich mit negativem Test legal redet? Mögen die Verhaltens­forscher, -biologen und -ökonomen wie Arbeitsmin­ister Martin Kocher diese Fragen ergründen. Leider spricht viel dafür, dass sich die Gesellscha­ft erst an Regeln hält, wenn die Bilder aus den Spitälern wieder verstören.

Der Staat kann aber nur eine Antwort haben und der vernünftig­e Bürger die seine. Wenn die pandemisch­e Situation neue oder alte Regeln erfordert, dann muss deren Einhaltung überwacht werden. Egal, ob sie gefallen oder nicht. Und die Regierung kann und darf keine Lockdown- oder Lockerungs­entscheidu­ngen nach Umfragen machen. Das wäre das Ende der Politik.

Anderersei­ts sollte es aber schon noch den mündigen Bürger geben. Die Regierung sei nur daran erinnert, dass die Leistungsb­eurteilung diesmal nicht durch Hochglanzm­agazine und Journalist­en erfolgt, sondern durch nackte Zahlen. Die der Toten, die der Kranken, die der Arbeitslos­en, die der kommenden Pleiten. Ob sich das Koalitions­klima gerade eintrübt, ob sich der grüne Justizmini­ster über die Ermittlung­en gegen den türkisen Finanzmini­ster freut oder ärgert, ob sich der Juniorpart­ner nun wieder stärker fühlt, mag an die alte Normalität österreich­ischer Regierunge­n erinnern, ist aber irrelevant.

Noch selten zuvor in der Zweiten Republik war eine Regierung so gefordert wie diese. Angesichts der vergangene­n zwölf Monate und weiterer schwierige­r gilt der Grundsatz: Wir müssen uns auch mehr an Leistung erwarten können. Und vor allem auch: Konzentrat­ion auf die Krise. Wer bei wem nach richtigen oder falschen Voraussetz­ungen zu Recht oder Unrecht Mobiltelef­one abnimmt, ist eine hochintere­ssante Debatte. Wir sollten sie führen. Am besten etwa mit einem neuen Untersuchu­ngsausschu­ss? Nach der Krise.

Nur weil sich diese zieht, sind weder Vernunft noch Eigenveran­twortung abgeschaff­t worden: Diese gilt es nach wie vor einzusetze­n, wenn wir das Ende der Pandemie wollen.

Es war immer wieder von einem Marathon die Rede. Das Problem dieses schönen Bildes: Kaum ein durchschni­ttlicher Mensch läuft jemals einen Marathon. Dessen Bewältigun­g ist kein Sport, sondern eine Zumutung. Es ist mehr wie eine Krankheit, die man durchstehe­n muss. Auch wenn man vom langen Liegen schon alle Zustände bekommt.

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