Nachrufe auf Türkis-Grün sind (wohl) verfrüht
Analyse. Fliegender Koalitionswechsel? Neuwahl? Vorerst weder noch. Aber die Lage ist angespannt. Welche Kräfte auf die Regierung einwirken, von innen und von außen.
Wien. Zufall? Oder doch nicht? Auffällig jedenfalls war es schon, dass der Gesundheitsminister ausgerechnet an jenem Tag, an dem der Bundeskanzler eine Impf-Exkursion nach Israel unternahm, eine kleine Wende in der Corona-Politik ankündigte. „Das Ruder zeigt leider in die falsche Richtung“, sagte Rudolf Anschober am Donnerstag angesichts „alarmierender“Prognosen zur Ausbreitung der britischen Virusvariante. Ob die jüngsten Öffnungsversprechen eingehalten werden könnten, entscheide man Mitte März.
Wie die Botschaft im Kanzleramt aufgenommen wurde, ist nicht überliefert. Sebastian Kurz versicherte am Freitag: „Wir divergieren hier nicht.“Die türkis-grüne Arbeitsbeziehung war allerdings davor schon beeinträchtigt, manche meinen sogar: schwer beschädigt. Nämlich durch den Asylstreit, vor allem aber durch die Vorgangsweise der Justiz gegen ÖVP-nahe Persönlichkeiten, insbesondere gegen Finanzminister Gernot Blümel, die von den Grünen verteidigt wurde.
Zuletzt machten bereits Gerüchte über ein vorzeitiges Ende von Türkis-Grün die Runde. Eines lautete: Die ÖVP plane einen fliegenden Koalitionswechsel zur SPÖ. Aber abgesehen davon, dass eine Große Koalition im türkisen Politikansatz nicht vorgesehen ist, würde die ÖVP ein Risiko eingehen, sich mit einer Partei einzulassen, die derzeit alles andere als geeint erscheint. Zwischen der Bundespartei um Pamela RendiWagner, der burgenländischen SPÖ und dem Wiener Stadtrat Peter Hacker gibt es nämlich nicht nur in Corona-Fragen große inhaltliche Differenzen. Und Michael Ludwig, dessen Wort in der Partei gilt, steht irgendwo dazwischen. Im Übrigen hat der Wiener Bürgermeister einen Koalitionswechsel ohne Neuwahl bereits ausgeschlossen.
Was gegen eine Neuwahl spricht
Eine solche wolle ohnehin niemand, versichern ÖVP und Grüne gleichermaßen. Außerdem, heißt es vom jeweils anderen, könnte sich der Koalitionspartner das gar nicht leisten. Wie sähe das denn aus, würde die ÖVP eine Neuwahl vom Zaun brechen, während gegen ihren Finanzminister ermittelt wird, fragen manche Grüne. Antikorruption würde ein bestimmendes Thema im Wahlkampf, und Sebastian Kurz könnte hier eigentlich nur verlieren (sofern die Verfahren zum Wahltermin noch laufen).
In der ÖVP wiederum glaubt man, dass die Grünen angesichts aktueller Umfragen kein Interesse an einem Koalitionsbruch haben könnten. Ihr Trauma aus dem Jahr 2017 hätten sie schließlich immer noch nicht überwunden.
In der Bevölkerung hätte jedenfalls kaum jemand Verständnis für eine Neuwahl mitten in der Pandemie. Und dann wäre da noch die Frage nach dem Danach. Die Grünen müssten hoffen, dass sich eine linke Koalition mit SPÖ und Neos gegen Kurz ausgeht. Und der ÖVP bliebe nur noch die SPÖ als Koalitionspartner, nachdem sie dann in wenigen Jahren die FPÖ und die Grünen verbraucht hätte. Und wie gesagt: Gegen die Große Koalition ist Sebastian Kurz ja ursprünglich angetreten.
Schwarze Länderchefs begehren auf
Gleichzeitig wirken gerade auch andere Kräfte auf die Regierung ein und stören das koalitionäre Gleichgewicht. Das Epizentrum ist dieses Mal die ÖVP. Mit ihren Angriffen gegen die WKStA brachte die türkise Regierungsspitze wesentliche Teile der Justiz gegen sich auf, obwohl sie dort viele Anhänger hat. Was wiederum die schwarzen Landeshauptleute verunsichert haben soll.
Der „Kurier“berichtete diese Woche, dass einflussreiche Landesparteien die Ablöse von ÖVP-Generalsekretär Axel Melchior gefordert hätten. Das Argument: Melchior, ein Weggefährte des Bundeskanzlers seit gemeinsamen Tagen in der JVP, sei zwar ein guter Bundesgeschäftsführer, aber kein Mann fürs Grobe. Es könne ja nicht sein, dass Sebastian Kurz selbst zur Verteidigung des Finanzministers ausrücken müsse. Daher brauche es jemanden, der ihm den Rücken freihalte. Im Kurz-Umfeld heißt es dazu: Keine Ahnung, woher dieses Gerücht stamme. Der Generalsekretär heiße Axel Melchior. „Punkt.“
Doch die schwarzen Landeshauptleute haben zuletzt einige Male erfolgreich gegen die Regierung aufbegehrt: Die Skilifte wurden gegen den türkis-grünen Willen aufgesperrt. Tirol leistete Widerstand gegen eine Quarantäne (ehe es schließlich die Ausreisetestungen akzeptierte). Und die Allianz aus ÖVP-Wirtschaftsflügel und Länderchefs, roten wie schwarzen, setzte zuletzt sanfte Öffnungsschritte durch, obwohl Experten dringend davon abgeraten hatten.
Angesichts dessen hatte die Pandemie mitunter sogar eine verbindende Wirkung auf Türkis-Grün, wenn auch nicht durchgängig. Man arbeite auch darüber hinaus konstruktiv zusammen, versichern beide Seiten. Zuletzt sei ja doch einiges weitergegangen. Stichwort Informationsfreiheit, Stichwort Justizreform.
Zadi´c kommt noch im März zurück
Demnächst kehrt übrigens Alma Zadic´ ins Justizministerium zurück. Auch wenn sie von Werner Kogler stets auf dem Laufenden gehalten wurde, hat sich während ihrer Babypause einiges getan, von der Hausdurchsuchung bei Finanzminister Gernot Blümel über die Ermittlungen im Fall Tojner gegen Ex-Minister Wolfgang Brandstetter und Sektionschef Christian Pilnacek bis hin zu Pilnaceks Suspendierung. Zwei Monate sind manchmal eine lange Zeit.
Wir divergieren hier nicht.
Kanzler Sebastian Kurz auf die Frage, ob er dem Gesundheitsminister zustimme, der sich angesichts der Prognosen alarmiert zeigte.