Die Presse

Interview mit Ursula Wiedermann-Schmidt: „Mehr Mut zur Lücke und zur Korrektur“

Coronaviru­s. Ursula Wiedermann-Schmidt, Mitglied des Impfgremiu­ms, spricht über die Motive, den AstraZenec­a-Impfstoff doch auch für Ältere zu empfehlen.

- VON KÖKSAL BALTACI

Die Presse: Der Empfehlung des Impfgremiu­ms, den AstraZenec­a-Impfstoff auch an über 65-Jährige zu verabreich­en, gingen turbulente Tage voraus. Vor knapp zwei Wochen kündigten Sie nach einer Studie aus Schottland im ORF an, das Alterslimi­t aufzuheben. Dazu kam es dann doch nicht, weil die Studie als Pre-Print erschien und nicht von unabhängig­en Experten begutachte­t wurde. Als Wien daraufhin eigenmächt­ig beschloss, den Impfstoff dennoch an Menschen ab 65 zu verabreich­en, begrüßten Sie diese Entscheidu­ng und meinten, sie sei „auf keinen Fall falsch“. Nun, ich habe Fragen . . .

Ursula Wiedermann-Schmidt:

Was soll ich sagen, wir sind in einer schwierige­n Situation, die Pandemie treibt uns vor sich her. Wir reden über Begriffe wie mRNA-Impfstoffe, Transmissi­on und sterile Immunität, die noch vor einigen Monaten niemand kannte. Die Anforderun­gen ändern sich ständig und machen Adaptierun­gen der Strategie notwendig.

Und Sie wollten eine solche Adaptierun­g?

Meine Aussage in der „ZiB 1“wurde leider etwas aus dem Zusammenha­ng gerissen. Ich wollte vor allem darauf hinweisen, dass immer mehr Daten zur Verfügung stehen, die wir als Impfgremiu­m sehr genau analysiere­n werden, und die dazu führen könnten, besagte Restriktio­n aufzuheben. Ich habe jedenfalls nichts angekündig­t, ohne mich zuvor abzusprech­en. Und die Entscheidu­ng Wiens ist deswegen nicht falsch, weil auch wir als Impfgremiu­m von Anfang an gesagt haben, dass der Impfstoff von AstraZenec­a sehr wohl auch an über 65-Jährige verabreich­t werden sollte, wenn andere Impfstoffe nicht verfügbar sind, etwa aus logistisch­en Gründen.

Ich habe das ORF-Interview gesehen, und mir ist aufgefalle­n, wie beeindruck­t Sie von der Schottland-Studie waren.

Weil sie rund 500.000 geimpfte Menschen zwischen 65 und 79 Jahren einschließ­t und es auch ein wissenscha­ftliches Journal für wert befunden hat, die Daten näher zu betrachten. Es geht im Übrigen nicht nur um diese Publikatio­n, mittlerwei­le sind auch zwei weitere Studien als Pre-Print erschienen, die eine Wirksamkei­t auch bei über 65-Jährigen belegen.

Die zunächst getroffene Entscheidu­ng des Gremiums fiel mehrheitli­ch aus – nicht einstimmig. Wurden Sie überstimmt?

Darauf antworte ich nicht, wir unterliege­n der Verschwieg­enheitspfl­icht.

Letztlich haben die Studien Ihre Kollegen doch überzeugt. Am Freitag wurde die Altersbesc­hränkung aufgehoben.

Das ist richtig, wir haben am Freitag noch einmal alle Studien durchdisku­tiert und kamen zum Schluss, dass die Datenlage solide ist und wir die Einschränk­ung guten Gewissens aufheben können.

Gab es Druck von den Ländern?

Nein, Druck von außen gab es nicht, höchstens einen selbst auferlegte­n Druck, ein österreich­weit einheitlic­hes Vorgehen zu erreichen. Denn am Donnerstag überschlug­en sich die Ereignisse, die Länder dachten darüber nach, wie Wien eigene Wege zu gehen. Daher bin ich sehr froh über diese Entscheidu­ng, die einstimmig fiel.

Stimmen Sie mir zu, wenn ich sage, das Impfgremiu­m agierte in dieser Frage übervorsic­htig?

Meiner Meinung nach in dieser Frage schon.

Gehen wir einen Schritt zurück. Ständig ist zu hören, auf die Europäisch­e Arzneimitt­el-Agentur EMA sei Verlass. Wenn sie einen Impfstoff zulässt, könne er als sicher und wirksam betrachtet werden. Dann trifft sie eine eindeutige Entscheidu­ng und lässt den Impfstoff für alle ab 18 zu, Ihr Gremium empfiehlt aber dennoch eine Einschränk­ung. Was sollen wir davon halten?

Eine berechtigt­e Frage, die Komplexitä­t der Diskussion­slawine in den vergangene­n Monaten ist nicht leicht zu erklären. Die Entscheidu­ng der EMA, den Impfstoff von AstraZenec­a für alle ab 18 zuzulassen, beinhaltet den Zusatz, wonach die Datenlage bei älteren Personen zum Zeitpunkt der Einreichun­g im November relativ dünn war. Da aber die anderen vorliegend­en Studiendat­en zur Immunogeni­tät vermuten ließen, dass der Impfstoff auch bei älteren Menschen eine hohe Wirksamkei­t zeigt, erfolgte die Zulassung trotzdem. Unsere Aufgabe als Impfgremiu­m besteht nun darin, zusätzlich­e Kriterien wie die epidemiolo­gische Lage in Österreich, die Verfügbark­eit weiterer Impfstoffe sowie deren jeweilige Wirksamkei­t bei älteren und vorerkrank­ten Menschen miteinzube­ziehen. Wir sind also für das Feintuning zuständig. Auch bei der Influenza sind die Impfstoffe für alle Altersgrup­pen zugelassen, aber zusätzlich gibt es einen adjuvierte­n oder höher dosierten Impfstoff für ältere Menschen und Hochrisiko­gruppen, wie etwa Patienten mit einem Krebsleide­n oder einem geschwächt­en Immunsyste­m. Unsere Empfehlung wäre ganz bestimmt anders ausgefalle­n, wenn der Impfstoff von AstraZenec­a als Erstes zugelassen worden wäre.

Verstehe ich das richtig? In Österreich war die Not nicht groß genug, um auch über 65-Jährige mit AstraZenec­a zu impfen? Wir haben ein Luxusprobl­em?

Ja, es ist eine Luxusdisku­ssion. Denn eigentlich sollten wir glücklich sein über die verfügbare­n Impfstoffe, denn jeder von ihnen baut eine Grundimmun­ität auf – und zwar bei allen Menschen. Ob wir dann auch noch adaptierte Impfstoffe brauchen, die bei bestimmten Alters- und Personengr­uppen besser wirken, kommt erst an zweiter Stelle. Wir sollten nicht über B, C und D reden, bevor wir nicht A geklärt haben.

Frau Professor, es ist offensicht­lich, dass Sie zunächst überstimmt wurden.

Dazu sage ich nichts.

Sollten Genesene nur einmal geimpft werden? Mehrere Studien zeigen, dass eine Teilimpfun­g einer Auffrischu­ng der Immunisier­ung gleichkomm­t.

Tatsächlic­h gibt das die Datenlage mehr und mehr her. Unsere Empfehlung lautet zwar noch nicht apodiktisc­h, Personen mit überstande­ner Infektion nur einmal zu impfen, aber bereits die erste Impfung dürfte bei ihnen einen Booster-Effekt auslösen und somit für eine vollständi­ge Grundimmun­isierung reichen.

Klare Ansage. Warum gibt es dann keine klare Empfehlung?

Weil der Booster-Effekt noch nicht bei allen Altersgrup­pen sowie Menschen mit bestimmten Vorerkrank­ungen, beispielsw­eise immunsuppr­imierten Patienten, nachgewies­en ist. Unsere Entscheidu­ngen müssen alle Eventualit­äten berücksich­tigen.

So gesehen dürfte in Österreich kein einziger Impfstoff verabreich­t werden. Denn eine 100-prozentige Wirksamkei­t bei allen Menschen gibt es nie.

Das ist wahr, deswegen spreche ich mich auch für mehr Mut zur Lücke, aber auch für mehr Mut zur Korrektur aus, sollten neue Erkenntnis­se geliefert werden. Wir können Entscheidu­ngen in dieser Pandemie nicht ständig aufschiebe­n, bis endgültige Evidenzen vorliegen. Wir müssen flexibel auf dynamische Veränderun­gen reagieren können und auch auf der Basis wissenscha­ftlicher Überlegung­en Entscheidu­ngen treffen.

Ich ahne, wie die Entscheidu­ng ausfallen würde, ginge es nur nach Ihnen. Was halten Sie von der Forderung, alle vorläufig nur einmal zu impfen, weil auch die erste Teilimpfun­g eine recht stabile Immunantwo­rt hervorruft – vor allem jene von AstraZenec­a?

Zunächst einmal begrüße ich alle Überlegung­en, die den Impffortsc­hritt beschleuni­gen wollen, bei dieser Frage aber bin ich der Meinung, dass eine komplette Immunisier­ung wichtiger ist, um eine stabile Immunantwo­rt zu erzeugen und ein immunologi­sches Gedächtnis aufzubauen, sodass bei späteren Auffrischu­ngen der Booster-Effekt zur Geltung kommt. Inkomplett­e Immunisier­ungen können zudem das Tor für Mutationen öffnen. Wenn wir bei der Immunisier­ung allzu großzügig sind, würden wir einen sehr großen Pool an Menschen zulassen, bei denen es zu Escape-Mutationen und somit zu neuen gefährlich­en Varianten wie der südafrikan­ischen und brasiliani­schen kommen kann, die sich der Immunantwo­rt entziehen.

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[ APA ] „Wir müssen flexibel sein“, sagt Ursula Wiedermann-Schmidt.

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