Eine Pandemie und ein Präsident bringen ein Riesenland zum Kippen
Brasilien. Die Corona-Epidemie läuft aus dem Ruder. Und Gerüchte über Putsch gegen Bolsonaro machten die Runde.
Brasilia/Buenos Aires. Er bleibt sich treu. Nachdem am Dienstag erstmals an einem Tag über 4000 Brasilianer an Corona gestorben waren, fragte Präsident Jair Bolsonaro Reporter: „In welchem Land der Welt wird denn nicht gestorben? Leider sterben überall Menschen. Wir erleben hier immer noch eine Pandemie, die teils politisch genutzt wird. Nicht um das Virus zu besiegen, sondern um zu versuchen, einen Präsidenten zu stürzen.“Am Abend zuvor hatte er gesagt: „Ich kann das Virusproblem in wenigen Minuten lösen. Ich muss nur die Beträge überweisen, die frühere Regierungen an ,O Globo‘, an ,Folha‘ oder den Estado de Sao˜ Paulo gezahlt haben. Aber heute fließt das Geld nicht an Medien, sondern wird für andere Dinge verwendet.“Verschwörungsthesen, Spott und Angriffe auf die Medien. Auf dem Niveau läuft der Diskurs in einem Land, das alle 20 Sekunden einen Menschen an die inzwischen sieben Coronavirus-Varianten verliert.
Am Dienstag entfiel fast die Hälfte aller weltweit registrierten Sterbefälle auf das 215-Millionen-Einwohner-Land, in dem erst 21 Mio. Impfdosen gespritzt wurden. Dessen Präsident täglich versichert, den Forderungen von Medizinern, Gouverneuren und der WHO nicht nachkommen zu können, weil die Wirtschaft keinen Lockdown verkrafte.
Vor zwei Wochen hatten 1554 Spitzenvertreter aus Wirtschaft und Finanz genau das verlangt, um die Infektionswelle zu brechen und im zweiten Halbjahr mit der Erholung zu beginnen. Dann warnte der Parlamentspräsident, die Abgeordneten könnten „sehr bittere Medizin verordnen“. Ein Hinweis darauf, dass zwei der fünf gewählten Präsidenten seit Brasiliens Rückkehr zur Demokratie 1985 des Amtes enthoben wurden.
Was macht das Militär?
Bolsonaro reagierte mit einer Rochade. Ende März wechselte er sechs Minister aus und feuerte den Generalstaatsanwalt. So opferte er Außenminister Ernesto Arau´jo, einen engen Alliierten, dem das Versagen bei der Besorgung der Impfstoffe vorgeworfen wurde. Er entließ auch die Ressortchefs für Verteidigung und Justiz und installierte Vertraute. Als darauf die Chefs von Heer, Marine und Luftwaffe zugleich zurücktraten, erinnerten sich viele an die Verwünschungen, mit denen Bolsonaro, selbst Ex-Offizier, seit Ende der 1980er regelmäßig Brasiliens Demokratie bedacht hatte. Wie ein dunkle Wolke hängten sich Putschgerüchte über Bras´ılia, als der neue Verteidigungsminister am 31. März die Kasernen anwies, den Jahrestag des Militärputsches 1964 feierlich zu begehen.
Zum Umsturz kam es freilich nicht. Nun diskutieren Analysten und Anleger, ob das ein Hinweis auf Bolsonaros Stärke sei. Oder auf dessen Schwäche.
Unklar bleibt die Rolle der Streitkräfte. Werden sie dem Präsidenten folgen, sollte er den Boden der Verfassung verlassen? Die Entlassung des Verteidigungsministers und den dreifachen Rücktritt erklärten viele Spezialisten mit der Verfassungstreue der Militärführung. Die leitenden Offiziere, aufgestiegen und verortet in 36 Jahren Demokratie, hätten sich geweigert, politische Schmutzarbeit für Bolsonaro auszuführen. Etwa Druck auszuüben auf die Mitglieder des Obersten Gerichtshofs, die dem linken ExPräsidenten Luiz Inacio´ Lula da Silva im März alle politischen Rechte zurückgaben und ihn so zum direkten Gegenkandidaten für die nächste Präsidentschaftswahl machten.
Überall Vertraute im Staatsapparat
Andere warnen vor einem „Venezuela-Effekt.“Wie einst Hugo Chavez´ hat Bolsonaro Uniformierte im Staatsapparat untergebracht. In Führung, Verwaltung, Staatswirtschaft wirken mehr als 6000 Militärs. Sogar das größte Unternehmen, die halbstaatliche Ölfirma Petrobras, übergab er einem General. Werden diese Leute freiwillig gehen, sollte er 2022 abgewählt werden? Und wie sind jene Dekrete zu interpretieren, mit denen er im Februar den Verkauf von Schusswaffen erleichterte? Sollte die Justiz nicht widersprechen, dürften unbescholtene Bürger ab Ende April bis zu sechs Waffen kaufen. Wird der neue Justizminister Einfluss nehmen? Anderson Torres ist Freund der Bolsonaros aus den Reihen der Militärpolizei, einer Einheit voller Bolsonaro-Verehrer und mit Drähten zu paramilitärischen Milizen, die vor allem in R´ıo das organisierte Verbrechen mitbestimmen. Mutige Staatsanwälte prüfen Querverbindungen zwischen den Milicias und Bolsonaros politisch aktiven Söhnen. Gegen alle vier wird ermittelt. Wie lang noch?
Brasiliens Politiker warten aufs gleiche Gegenmittel wie Unternehmer und Ärzte. Doch die Verfügbarkeit von Vakzinen verzögert sich. Grund sind Lieferaufschübe beim lokalen Erzeuger des AstraZeneca-Impfstoffs sowie Zulassungsprobleme eines indischen Vakzins und des russischen Sputnik V. Man wartet auf 150 Millionen Dosen von Pfizer und Johnson & Johnson, die in der zweiten Jahreshälfte kommen sollen, und Mediziner finden stets neue Virusmutationen. Eine, vor Tagen beschrieben in Minas Gerais, soll ähnlich gefährliche Veränderungen zeigen wie die britische und südafrikanische Variante.