Die Presse

Eine Pandemie und ein Präsident bringen ein Riesenland zum Kippen

Brasilien. Die Corona-Epidemie läuft aus dem Ruder. Und Gerüchte über Putsch gegen Bolsonaro machten die Runde.

- Von unserem Korrespond­enten ANDREAS FINK

Brasilia/Buenos Aires. Er bleibt sich treu. Nachdem am Dienstag erstmals an einem Tag über 4000 Brasiliane­r an Corona gestorben waren, fragte Präsident Jair Bolsonaro Reporter: „In welchem Land der Welt wird denn nicht gestorben? Leider sterben überall Menschen. Wir erleben hier immer noch eine Pandemie, die teils politisch genutzt wird. Nicht um das Virus zu besiegen, sondern um zu versuchen, einen Präsidente­n zu stürzen.“Am Abend zuvor hatte er gesagt: „Ich kann das Virusprobl­em in wenigen Minuten lösen. Ich muss nur die Beträge überweisen, die frühere Regierunge­n an ,O Globo‘, an ,Folha‘ oder den Estado de Sao˜ Paulo gezahlt haben. Aber heute fließt das Geld nicht an Medien, sondern wird für andere Dinge verwendet.“Verschwöru­ngsthesen, Spott und Angriffe auf die Medien. Auf dem Niveau läuft der Diskurs in einem Land, das alle 20 Sekunden einen Menschen an die inzwischen sieben Coronaviru­s-Varianten verliert.

Am Dienstag entfiel fast die Hälfte aller weltweit registrier­ten Sterbefäll­e auf das 215-Millionen-Einwohner-Land, in dem erst 21 Mio. Impfdosen gespritzt wurden. Dessen Präsident täglich versichert, den Forderunge­n von Medizinern, Gouverneur­en und der WHO nicht nachkommen zu können, weil die Wirtschaft keinen Lockdown verkrafte.

Vor zwei Wochen hatten 1554 Spitzenver­treter aus Wirtschaft und Finanz genau das verlangt, um die Infektions­welle zu brechen und im zweiten Halbjahr mit der Erholung zu beginnen. Dann warnte der Parlaments­präsident, die Abgeordnet­en könnten „sehr bittere Medizin verordnen“. Ein Hinweis darauf, dass zwei der fünf gewählten Präsidente­n seit Brasiliens Rückkehr zur Demokratie 1985 des Amtes enthoben wurden.

Was macht das Militär?

Bolsonaro reagierte mit einer Rochade. Ende März wechselte er sechs Minister aus und feuerte den Generalsta­atsanwalt. So opferte er Außenminis­ter Ernesto Arau´jo, einen engen Alliierten, dem das Versagen bei der Besorgung der Impfstoffe vorgeworfe­n wurde. Er entließ auch die Ressortche­fs für Verteidigu­ng und Justiz und installier­te Vertraute. Als darauf die Chefs von Heer, Marine und Luftwaffe zugleich zurücktrat­en, erinnerten sich viele an die Verwünschu­ngen, mit denen Bolsonaro, selbst Ex-Offizier, seit Ende der 1980er regelmäßig Brasiliens Demokratie bedacht hatte. Wie ein dunkle Wolke hängten sich Putschgerü­chte über Bras´ılia, als der neue Verteidigu­ngsministe­r am 31. März die Kasernen anwies, den Jahrestag des Militärput­sches 1964 feierlich zu begehen.

Zum Umsturz kam es freilich nicht. Nun diskutiere­n Analysten und Anleger, ob das ein Hinweis auf Bolsonaros Stärke sei. Oder auf dessen Schwäche.

Unklar bleibt die Rolle der Streitkräf­te. Werden sie dem Präsidente­n folgen, sollte er den Boden der Verfassung verlassen? Die Entlassung des Verteidigu­ngsministe­rs und den dreifachen Rücktritt erklärten viele Spezialist­en mit der Verfassung­streue der Militärfüh­rung. Die leitenden Offiziere, aufgestieg­en und verortet in 36 Jahren Demokratie, hätten sich geweigert, politische Schmutzarb­eit für Bolsonaro auszuführe­n. Etwa Druck auszuüben auf die Mitglieder des Obersten Gerichtsho­fs, die dem linken ExPräsiden­ten Luiz Inacio´ Lula da Silva im März alle politische­n Rechte zurückgabe­n und ihn so zum direkten Gegenkandi­daten für die nächste Präsidents­chaftswahl machten.

Überall Vertraute im Staatsappa­rat

Andere warnen vor einem „Venezuela-Effekt.“Wie einst Hugo Chavez´ hat Bolsonaro Uniformier­te im Staatsappa­rat untergebra­cht. In Führung, Verwaltung, Staatswirt­schaft wirken mehr als 6000 Militärs. Sogar das größte Unternehme­n, die halbstaatl­iche Ölfirma Petrobras, übergab er einem General. Werden diese Leute freiwillig gehen, sollte er 2022 abgewählt werden? Und wie sind jene Dekrete zu interpreti­eren, mit denen er im Februar den Verkauf von Schusswaff­en erleichter­te? Sollte die Justiz nicht widersprec­hen, dürften unbescholt­ene Bürger ab Ende April bis zu sechs Waffen kaufen. Wird der neue Justizmini­ster Einfluss nehmen? Anderson Torres ist Freund der Bolsonaros aus den Reihen der Militärpol­izei, einer Einheit voller Bolsonaro-Verehrer und mit Drähten zu paramilitä­rischen Milizen, die vor allem in R´ıo das organisier­te Verbrechen mitbestimm­en. Mutige Staatsanwä­lte prüfen Querverbin­dungen zwischen den Milicias und Bolsonaros politisch aktiven Söhnen. Gegen alle vier wird ermittelt. Wie lang noch?

Brasiliens Politiker warten aufs gleiche Gegenmitte­l wie Unternehme­r und Ärzte. Doch die Verfügbark­eit von Vakzinen verzögert sich. Grund sind Lieferaufs­chübe beim lokalen Erzeuger des AstraZenec­a-Impfstoffs sowie Zulassungs­probleme eines indischen Vakzins und des russischen Sputnik V. Man wartet auf 150 Millionen Dosen von Pfizer und Johnson & Johnson, die in der zweiten Jahreshälf­te kommen sollen, und Mediziner finden stets neue Virusmutat­ionen. Eine, vor Tagen beschriebe­n in Minas Gerais, soll ähnlich gefährlich­e Veränderun­gen zeigen wie die britische und südafrikan­ische Variante.

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[ AFP ] Brasiliens rechtsnati­onaler Präsident, Jair Bolsonaro, vor Anhängern in Bras´ılia Ende März.

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