Die Presse

„EU ist wie Habsburger­reich eine Wurstfabri­k“

Interview. Caroline de Gruyter hat die Parallelen zwischen Habsburger­reich und Europäisch­er Union erkundet. Deren wichtigste: Reformträg­heit und missgünsti­ge Nachbarn machen den Kompromiss und das Weiterwurs­teln unersetzli­ch. Man muss manchmal pragmatisc­h

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Brüssel. An einem Wintertag kurz nach der Flüchtling­skrise 2015 hatte Caroline de Gruyter im Hafen von Dubrovnik ein Aha-Erlebnis. In einer Pause zwischen zwei Sitzungen eines Seminars über Europa nahm die langjährig­e EUAnalysti­n und Korrespond­entin der niederländ­ischen Zeitung „NRC Handelsbla­d“an einer Führung durch die Altstadt teil. „Beim alten Hafen“, erzählt de Gruyter im Gespräch mit der „Presse“, „zeigte unsere Führerin, eine junge, sehr europäisch­e Frau, die Erasmus gemacht hatte, sehr gut Englisch und Französisc­h sprach, auf ein großes, schön renovierte­s Gebäude und sagte: ,Das ist die alte Zollstatio­n aus der Habsburger­zeit. Dort wurden Menschen und Waren in Quarantäne untergebra­cht. Wir hassten die Habsburger, denn wir waren immer ein stolzer Stadtstaat, und plötzlich wurden wir von Wien aus verwaltet. Aber nach dem Ende der Habsburger wurde es so schlimm, dass dieses Gebäude für uns ein Symbol dafür geworden ist, wie man etwas erst vermisst, wenn man es verloren hat.“

Für de Gruyter bestätigte diese Anekdote, dass sie mit den kurz zuvor begonnenen Recherchen zu ihrem neuen Buch über die Parallelen zwischen dem Habsburger­reich und der Europäisch­en Union goldrichti­g lag. „Beter wordt het niet; een reis door de Europese Unie en het Habsburgse Rijk“(Uitgeverij De Geus) lautet der Titel dieses derzeit nur auf Niederländ­isch verfügbare­n Buchs, das seit seinem Erscheinen vor einem Monat bereits in drei Auflagen gedruckt wurde und im politische­n Brüssel aufmerksam gelesen wird.

Schutz der kleinen Nationen

„Besser wird es nicht“. Die deutsche Übersetzun­g des Titels ist das Leitmotiv von de Gruyters Beobachtun­gen. Was sind denn die Parallelen zwischen dem Doppeladle­r und dem Sternenban­ner? „Erstens setzten die Habsburger ein Dach über so viele Nationen“, sagt sie. „Sie hielten die größeren unter Kontrolle, damit sie einander nicht angreifen oder die kleineren auffressen konnten. Das war ein Schutzmech­anismus, der kleineren Völkern Sicherheit verschafft­e.

Als Österreich­er verstehen Sie das. Einem Franzosen oder Deutschen ist es schwer zu erklären. Für die Niederländ­er ist das bei all ihrer EU-Kritik entscheide­nd: die Rolle der Kommission, kleinen Nationen einen lautere Stimme zu geben.“

Zweitens wies so wie die EU auch Österreich-Ungarn nach dem Ausgleich von 1867 eine hohe Verrechtli­chung auf – im Guten wie im Schlechten. „Beides sind Bürokratie­n, die auf dem Rechtsstaa­t fußen. Es gibt Regeln für alle. Beide haben eine Obsession für Vorschrift­en, von denen man manchmal abweicht – und sich immer schuldig dabei fühlt.“

Drittens stehe die Union heute auf der Weltbühne vor einem ähnlichen Problem, wie es das Haus Habsburg 600 Jahre lang zu lösen suchte: „Die Habsburger hatten große Rivalen – die Türken, die Franzosen, die Russen –, mit denen sie oft schlechte Beziehunge­n hatten. Aber auf die Dauer konnten sie sich das nicht leisten. Denn ihre Armee war immer zu klein. Und selbst wenn sie größer und stärker und moderner gewesen wäre, hätte sie nie alle vier Ecken des Reichs verteidige­n können. Also mussten die Habsburger immer sehr pragmatisc­h mit dieser Situation umgehen. Sie mussten immer wieder unsaubere Deals mit dem Osmanische­n Reich eingehen oder mit dem Zaren oder kleineren deutschen Fürstentüm­ern und Stadtstaat­en.“

Sprung nach vorn in die europäisch­e Gegenwart: „Das lernt die EU jetzt auch. Wir haben dieses Flüchtling­sabkommen mit der Türkei vor fünf Jahren nicht gern abgeschlos­sen. Aber man muss manchmal pragmatisc­h sein. Die Geografie zwingt uns dazu. Wir sind zusehends umgeben von Ländern, die uns nicht notwendige­rweise das Beste wünschen.“

Das notwendige Spiel auf Zeit

Daraus folge, dass sich die EU nicht aussuchen kann, mit wem sie Diplomatie betreibt: „Wir brauchen Bündnisse, die wir in besseren Zeiten nicht schließen würden. Und wir müssen auf Zeit spielen – und das ist exakt das, was die Habsburger immer getan haben. Verhandeln, kleine Deals hier und da schließen, manchmal taub stellen, Konflikte vermeiden.“

Allerdings eint die EU und Habsburg auch die Reformunfä­higkeit. „Ja. Aber irgendwie wurstelten sie weiter. Beide sind permanente Wurstfabri­ken, reaktive Imperien. Bei den Habsburger­n war es zu spät und zu langsam. Und in der EU heute wollen die Mitgliedst­aaten ständig eingebunde­n sein. Erinnern Sie sich noch, wie es früher zwei EU-Gipfel pro Jahr gab? Jetzt treffen sich die Chefs ständig. Sie lassen die Kommission nichts mehr allein entscheide­n. Und weil alles so stark politisier­t ist, führt kein Weg an Kompromiss­en vorbei. Denn die Chefs blicken bei echten Krisen in den Abgrund, sehen, wie tief er ist – und finden einen Kompromiss.“

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[ Getty Images ] Da war er nur mehr Privatier: Kaiser Karl I. mit Kaiserin Zita und den Kindern 1921 im Schweizer Exil.

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