Die Presse

Harter Brexit entfacht den Nordirland-Konflikt neu

Analyse. Die Großbritan­nien-treuen Kräfte fühlen sich von der Regierung in London verraten. Radikale Gruppen formieren sich nach der widersprüc­hlichen Umsetzung des EU-Austritts neu und forcieren den Kampf auf der Straße.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

London. Vor 130 Jahren seufzte der britische Premiermin­ister Lord Salisbury: „Die meisten politische­n Probleme werden auf Grundlage des Missverstä­ndnisses weiterverf­olgt, dass man glaubt, es gibt für sie eine Lösung.“Das mag auf Palästina zutreffen, das gilt wohl auch für Nordirland. Trotz eindringli­cher Appelle aller Parteien, aber auch aus London, Dublin und Washington, halten die Krawalle in Belfast an. Erstmals seit sechs Jahren setzte die Polizei in der Nacht auf Freitag sogar Wasserwerf­er gegen die Unruhestif­ter ein.

Die Zusammenst­öße, daran besteht kein Zweifel, gehen vom Lager des pro-britischen, protestant­ischen Lagers aus. Sie nennen sich Unionisten, weil sie an die Union mit Großbritan­nien glauben, oder auch Loyalisten, weil sie loyal zum Vereinigte­n Königreich stehen. Sie sind empört, weil sie drei Monate nach Inkrafttre­ten des Brexit nicht mehr länger übersehen können, dass sie von London fallengela­ssen worden sind.

Während in England, Schottland und Wales zu Jahresbegi­nn der EU-Austritt in Kraft trat, blieb Nordirland – vorerst bis 2024 – im Binnenmark­t und der Zollunion. Die Verhinderu­ng einer kontrollie­rten Landgrenze zu Irland führte logischerw­eise zu einer Grenze in der Irischen See. Der britische Premiermin­ister Boris Johnson versprach wiederholt: „Ich kann absolut garantiere­n, dass es keine Grenze geben wird.“Er hat gelogen.

Das hatte Folgen. Seit Jänner kommt es im Handel immer wieder zu Verzögerun­gen, die sich in Versorgung­sengpässen in Nordirland niederschl­agen. Die EU zog einige Tage Zöllner vom Dienst ab, weil sie mit Gewalt bedroht worden waren. London will sich über die Schwierigk­eiten hinwegschu­mmeln, indem man die Bestimmung­en des Nordirland-Protokolls einseitig – angeblich nur vorerst – suspendier­t. „Es ist, als ob die Regierung ein Abkommen unterschri­eben hat, von dem sie selbst keine Absicht hat, es einzuhalte­n“, sagt der Politologe Anand Menon zur „Presse“. Die EU hat mittlerwei­le ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren eingeleite­t.

Bald sind sie eine Minderheit

Doch, wie ein Diplomat zur BBC sagte: „Niemand geht auf die Straße, weil es im Supermarkt keinen Mozzarella gibt.“Was für Unionisten vielmehr auf dem Spiel steht, ist ihre Identität, die sie bedroht sehen. Die Katholiken genießen offenen Rückhalt der Regierung in Dublin, die wiederum Unterstütz­ung in Brüssel und Washington genießt. Zudem ist der demografis­che Vorteil der Protestant­en rapide im Schwinden: Schon nach der Volkszählu­ng in diesem Jahr könnten die Katholiken erstmals die Mehrheit in der Provinz stellen.

Im Gefühl einer bedrohten Minderheit treffen sich nun auch Parlaments­parteien, die den demokratis­chen Prozess respektier­en, mit radikalen Kräften. Es war mehr als ein Warnschuss, als im März protestant­ische Untergrund­gruppen ihre „Loyalität“zum Friedensab­kommen von 1998 „vorerst suspendier­ten“. Noch bezeichnen­der aber war es, dass Regierungs­chefin Arlene Foster von der Democratic Unionist Party umgehend Zeit für Gespräche mit den Paramilitä­rs fand. Foster und ihre DUP verlangen die völlige Streichung des Nordirland-Protokolls.

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