Harter Brexit entfacht den Nordirland-Konflikt neu
Analyse. Die Großbritannien-treuen Kräfte fühlen sich von der Regierung in London verraten. Radikale Gruppen formieren sich nach der widersprüchlichen Umsetzung des EU-Austritts neu und forcieren den Kampf auf der Straße.
London. Vor 130 Jahren seufzte der britische Premierminister Lord Salisbury: „Die meisten politischen Probleme werden auf Grundlage des Missverständnisses weiterverfolgt, dass man glaubt, es gibt für sie eine Lösung.“Das mag auf Palästina zutreffen, das gilt wohl auch für Nordirland. Trotz eindringlicher Appelle aller Parteien, aber auch aus London, Dublin und Washington, halten die Krawalle in Belfast an. Erstmals seit sechs Jahren setzte die Polizei in der Nacht auf Freitag sogar Wasserwerfer gegen die Unruhestifter ein.
Die Zusammenstöße, daran besteht kein Zweifel, gehen vom Lager des pro-britischen, protestantischen Lagers aus. Sie nennen sich Unionisten, weil sie an die Union mit Großbritannien glauben, oder auch Loyalisten, weil sie loyal zum Vereinigten Königreich stehen. Sie sind empört, weil sie drei Monate nach Inkrafttreten des Brexit nicht mehr länger übersehen können, dass sie von London fallengelassen worden sind.
Während in England, Schottland und Wales zu Jahresbeginn der EU-Austritt in Kraft trat, blieb Nordirland – vorerst bis 2024 – im Binnenmarkt und der Zollunion. Die Verhinderung einer kontrollierten Landgrenze zu Irland führte logischerweise zu einer Grenze in der Irischen See. Der britische Premierminister Boris Johnson versprach wiederholt: „Ich kann absolut garantieren, dass es keine Grenze geben wird.“Er hat gelogen.
Das hatte Folgen. Seit Jänner kommt es im Handel immer wieder zu Verzögerungen, die sich in Versorgungsengpässen in Nordirland niederschlagen. Die EU zog einige Tage Zöllner vom Dienst ab, weil sie mit Gewalt bedroht worden waren. London will sich über die Schwierigkeiten hinwegschummeln, indem man die Bestimmungen des Nordirland-Protokolls einseitig – angeblich nur vorerst – suspendiert. „Es ist, als ob die Regierung ein Abkommen unterschrieben hat, von dem sie selbst keine Absicht hat, es einzuhalten“, sagt der Politologe Anand Menon zur „Presse“. Die EU hat mittlerweile ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.
Bald sind sie eine Minderheit
Doch, wie ein Diplomat zur BBC sagte: „Niemand geht auf die Straße, weil es im Supermarkt keinen Mozzarella gibt.“Was für Unionisten vielmehr auf dem Spiel steht, ist ihre Identität, die sie bedroht sehen. Die Katholiken genießen offenen Rückhalt der Regierung in Dublin, die wiederum Unterstützung in Brüssel und Washington genießt. Zudem ist der demografische Vorteil der Protestanten rapide im Schwinden: Schon nach der Volkszählung in diesem Jahr könnten die Katholiken erstmals die Mehrheit in der Provinz stellen.
Im Gefühl einer bedrohten Minderheit treffen sich nun auch Parlamentsparteien, die den demokratischen Prozess respektieren, mit radikalen Kräften. Es war mehr als ein Warnschuss, als im März protestantische Untergrundgruppen ihre „Loyalität“zum Friedensabkommen von 1998 „vorerst suspendierten“. Noch bezeichnender aber war es, dass Regierungschefin Arlene Foster von der Democratic Unionist Party umgehend Zeit für Gespräche mit den Paramilitärs fand. Foster und ihre DUP verlangen die völlige Streichung des Nordirland-Protokolls.