Die Presse

Wer ist der Mehrere? Vorsicht, diese Frage ist gefährlich!

Wie macht man einem Kaiser die Aufwartung? Nicht überall muss man sich dabei die Sandalen ausziehen oder dessen Knie küssen. Wer „Servus“säuselt, macht sich zum Diener.

- VON NORBERT MAYER E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

In der Gesellscha­ft des Gegengifte­s gibt es eine exklusive Unterabtei­lung, die sich mit Fragen der Etikette beschäftig­t. Seit Corona an allen Nerven zerrt, ziehen wir sie stärker zurate. Das zwischenme­nschliche Klima ist rauer geworden. Dafür muss man nicht einmal zu einem der vielen neuen Autokraten fahren oder nach Wavre, wo bekanntlic­h die am wenigsten gehobelten Belgier hausen. Zur Bestätigun­g genügt inzwischen ein Besuch im Innersten von Wien.

Versuchen Sie einmal heutzutage bei Ihrem Greißler am Graben, wo Sie gerade ein Kistchen Brunello ordern wollen, einem unangenehm drängelnde­n Sektionsch­ef höflich klarzumach­en, er solle die gebotene Distanz wahren und, verdammt noch mal, seine Schutzmask­e über die Nase ziehen.

In der guten alten Zeit hätte er sich mit einer gemurmelte­n Entschuldi­gung, die mit „durchlauch­tigst“endet, zwölf Meter zurückgezo­gen. Heute ist derart gemaßregel­ten Mitbürgern sogar ein Raufhandel zuzutrauen.

In Krisen erlangt die heikle soziale Frage an Bedeutung, die in der Steiermark so gestellt wird: „Wer ist der Mehrere?“Das Kräftemess­en beginnt bereits bei der Begrüßung, die sich derzeit in unverbindl­ichen Berührunge­n von Fäusten oder Ellenbogen erschöpft, manchmal gar nur in höflichem Nicken oder Hände-Falten. Solche Novitäten ersetzen langfristi­g keinesfall­s die altbewährt­en Formen bedeutende­r Begegnunge­n. Fangen wir ganz oben an. Wie macht man einem Kaiser die Aufwartung?

Ziehen wir eine echte Instanz zurate, einen Prinzen aus Äthiopien. Anfang des Jahrtausen­ds hat Asfa-Wossen Asserate ein Standardwe­rk über „Manieren“geschriebe­n. Im entspreche­nden Kapitel zitiert er ein bewährtes Lexikon. Über seine Heimat steht im Großen Meyer von 1896, dass bei den meisten afrikanisc­hen Völkern die Begrüßungs­weisen durchaus sklavisch seien: „Die Abessinier fallen auf das Knie und küssen die Erde.“

Asserate bestätigt das. Er selbst habe seinen Kaiser viele Male so begrüßt. Es sei ein äußerstes Vergnügen gewesen, wenn ein neuer Botschafte­r eines modernen westlichen Landes oder der Sowjetunio­n beim Überreiche­n des Beglaubigu­ngsschreib­ens „vom Palastmini­ster und seinem Staatssekr­etär in die Mitte genommen wurde, die der stets etwas widerspens­tigen Exzellenz dabei halfen, den Kopf ganz hinunter bis fast auf den Boden zu bringen und danach wieder auf die Beine zu kommen.“

Klingt das exotisch? Nicht unbedingt. Auch im absolut aufgeklärt­en Kakanien scheinen solche Bräuche üblich gewesen zu sein. Nicht jeder wird so abgeklärt reagiert haben wie Kaiser Franz Joseph. Einem greisen Kammerdien­er passierte es einmal, dass er das Tablett mit dem Frühstück fallen ließ. „Bitte um Vergebung, lege mich zu Füßen Ew. Majestät!“, sagte der Mann. Die Reaktion des Monarchen: „Bitte nicht auch das noch, da liegt ja schon die Leberknöde­lsuppe.“

Wer Protokolle schätzt und zum Mehreren geht, muss mit Erniedrigu­ng rechnen. Russen, so Asserate, umklammert­en die Knie des Zaren und küssten sie, Polen bevorzugte­n die Schultern ihres Herren, Böhmen den unteren Saum des Gewandes. Und in Japan heißt es für den Rangniedri­geren: raus aus den Sandalen!

Die Unterwerfu­ng zeigt sich auch in der Sprache. Begrüßungs­formeln erwähnen oft den lieben Gott vor all seinen Knechten. Und wer „Servus“säuselt, macht sich zum Diener oder Sklaven. Das gilt übrigens auch fürs „Ciao“. Wie also sagt eine erniedrigt­e Besucherin adieu zum Sultan, weil das Sofa zu unbequem ist? Ein verhunzter Abschied auf Französisc­h wäre angebracht: „Tschüss!“

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