Wer ist der Mehrere? Vorsicht, diese Frage ist gefährlich!
Wie macht man einem Kaiser die Aufwartung? Nicht überall muss man sich dabei die Sandalen ausziehen oder dessen Knie küssen. Wer „Servus“säuselt, macht sich zum Diener.
In der Gesellschaft des Gegengiftes gibt es eine exklusive Unterabteilung, die sich mit Fragen der Etikette beschäftigt. Seit Corona an allen Nerven zerrt, ziehen wir sie stärker zurate. Das zwischenmenschliche Klima ist rauer geworden. Dafür muss man nicht einmal zu einem der vielen neuen Autokraten fahren oder nach Wavre, wo bekanntlich die am wenigsten gehobelten Belgier hausen. Zur Bestätigung genügt inzwischen ein Besuch im Innersten von Wien.
Versuchen Sie einmal heutzutage bei Ihrem Greißler am Graben, wo Sie gerade ein Kistchen Brunello ordern wollen, einem unangenehm drängelnden Sektionschef höflich klarzumachen, er solle die gebotene Distanz wahren und, verdammt noch mal, seine Schutzmaske über die Nase ziehen.
In der guten alten Zeit hätte er sich mit einer gemurmelten Entschuldigung, die mit „durchlauchtigst“endet, zwölf Meter zurückgezogen. Heute ist derart gemaßregelten Mitbürgern sogar ein Raufhandel zuzutrauen.
In Krisen erlangt die heikle soziale Frage an Bedeutung, die in der Steiermark so gestellt wird: „Wer ist der Mehrere?“Das Kräftemessen beginnt bereits bei der Begrüßung, die sich derzeit in unverbindlichen Berührungen von Fäusten oder Ellenbogen erschöpft, manchmal gar nur in höflichem Nicken oder Hände-Falten. Solche Novitäten ersetzen langfristig keinesfalls die altbewährten Formen bedeutender Begegnungen. Fangen wir ganz oben an. Wie macht man einem Kaiser die Aufwartung?
Ziehen wir eine echte Instanz zurate, einen Prinzen aus Äthiopien. Anfang des Jahrtausends hat Asfa-Wossen Asserate ein Standardwerk über „Manieren“geschrieben. Im entsprechenden Kapitel zitiert er ein bewährtes Lexikon. Über seine Heimat steht im Großen Meyer von 1896, dass bei den meisten afrikanischen Völkern die Begrüßungsweisen durchaus sklavisch seien: „Die Abessinier fallen auf das Knie und küssen die Erde.“
Asserate bestätigt das. Er selbst habe seinen Kaiser viele Male so begrüßt. Es sei ein äußerstes Vergnügen gewesen, wenn ein neuer Botschafter eines modernen westlichen Landes oder der Sowjetunion beim Überreichen des Beglaubigungsschreibens „vom Palastminister und seinem Staatssekretär in die Mitte genommen wurde, die der stets etwas widerspenstigen Exzellenz dabei halfen, den Kopf ganz hinunter bis fast auf den Boden zu bringen und danach wieder auf die Beine zu kommen.“
Klingt das exotisch? Nicht unbedingt. Auch im absolut aufgeklärten Kakanien scheinen solche Bräuche üblich gewesen zu sein. Nicht jeder wird so abgeklärt reagiert haben wie Kaiser Franz Joseph. Einem greisen Kammerdiener passierte es einmal, dass er das Tablett mit dem Frühstück fallen ließ. „Bitte um Vergebung, lege mich zu Füßen Ew. Majestät!“, sagte der Mann. Die Reaktion des Monarchen: „Bitte nicht auch das noch, da liegt ja schon die Leberknödelsuppe.“
Wer Protokolle schätzt und zum Mehreren geht, muss mit Erniedrigung rechnen. Russen, so Asserate, umklammerten die Knie des Zaren und küssten sie, Polen bevorzugten die Schultern ihres Herren, Böhmen den unteren Saum des Gewandes. Und in Japan heißt es für den Rangniedrigeren: raus aus den Sandalen!
Die Unterwerfung zeigt sich auch in der Sprache. Begrüßungsformeln erwähnen oft den lieben Gott vor all seinen Knechten. Und wer „Servus“säuselt, macht sich zum Diener oder Sklaven. Das gilt übrigens auch fürs „Ciao“. Wie also sagt eine erniedrigte Besucherin adieu zum Sultan, weil das Sofa zu unbequem ist? Ein verhunzter Abschied auf Französisch wäre angebracht: „Tschüss!“