Die Presse

Hat Foucault Buben missbrauch­t?

Frankreich. Der am meisten zitierte Philosoph unserer Tage soll sich in Tunesien sexuelle Dienste von Kindern erkauft haben. Müssen wir sein Werk nun anders lesen?

- VON KARL GAULHOFER

Ein Dorf auf einem Hügel über dem Meer. Weiße Kuppeln, blaue Balkone. Damals, in den 1960er-Jahren, wurden am Dorfplatz keine Postkarten verkauft, sondern Fisch und Gemüse. Aber Sidi Bou Sa¨ıd war bereits ein Zufluchtso­rt französisc­her Künstler und Intellektu­eller. Allen voran Michel Foucault, der ein Haus bewohnte, das sich zur Bucht von Tunis öffnete. Wie ein Asket, mit einer Strohmatte als Bett. Hier konnte der Philosoph, Historiker und Soziologe in Ruhe an seiner „Archäologi­e des Wissens“schreiben. Und ja, auch seine Homosexual­ität freier ausleben als zu Hause, wie schon vor ihm Andre´ Gide. Ein Idyll?

So beschriebe­n es später Gäste von damals, mit verblassen­der Erinnerung. Bis zum Februar. Da behauptete der frankoamer­ikanische Publizist Guy Sorman in seinem neuen Buch beiläufig, der 1984 verstorben­e Foucault habe in seinen zwei Jahren in Tunesien Buben sexuell missbrauch­t. In einer TV-Sendung im März und einem Interview mit der „Sunday Times“wurde er konkreter: Acht- bis zehnjährig­en Knaben habe der „Schweinehu­nd“Münzen hingeworfe­n, damit sie es in der Nacht mit ihm am Friedhof trieben. „Moralisch scheußlich“findet Sorman das, er schäme sich, dass er es nicht schon früher publik gemacht habe.

In Frankreich bleibt der Aufschrei aus. Vielleicht ist die dauererreg­te Öffentlich­keit des Themas müde, nach immer neuen Enthüllung­en über pädophile Umtriebe von (linken wie rechten) Intellektu­ellen der 68er-Generation. Manche aus dieser Elite fühlten sich über die Alltagsmor­al erhaben. Viele glaubten ehrlich, Erwachsene hätten das Recht, ja die Aufgabe, kindliche Sexualität wachzurufe­n, statt sie zu unterdrück­en – die Kleinen wüssten schon, was sie wollten und worauf sie sich einlassen könnten. Das erzeugte nur neuen Zwang, neues Leid, und der fatale Irrtum wird nun, viel später als in anderen Ländern, doch noch aufgearbei­tet.

Stärker ist die Reaktion im deutschen Feuilleton, auch falsch zugespitzt. Nein, Sorman bezichtigt Foucault nicht, er habe Buben „auf den Gräbern vergewalti­gt“, wie es in der „Zeit“heißt. Er wirft ihm nur vor, er habe in kolonialis­tischer Manier der Kinderpros­titution Vorschub geleistet. Zwar meint er dunkel, „die Frage des Einverstän­dnisses wurde nicht einmal gestellt“, betont aber zugleich, er sei am Friedhof ja nicht dabei gewesen. In einer Vor-Ort-Reportage des Magazins „Jeune Afrique“entlastet das greise „Gedächtnis des Dorfes“den Beschuldig­ten: Nicht am Friedhof, sondern daneben, im Wäldchen beim Leuchtturm habe sich Foucault vergnügt, und nicht mit Kindern, sondern jungen Burschen von „17, 18 Jahren“. Die „Süddeutsch­e“moniert fälschlich, dieser Zeitzeuge verharmlos­e „nach alter Art“, indem er behaupte, der Meister wurde umgekehrt „von den Knaben verführt“. Tatsächlic­h hat der Befragte nur gesagt, dass sich Foucault von ihnen „angezogen fühlte“.

Macht, Sexualität und Wahrheit

Dennoch: Hier geht es nicht, wie bei vielen Künstlerbi­ografien, um private Verfehlung­en, die an der Dignität des Werkes nichts ändern. Es geht um den wohl meistzitie­rten Philosophe­n unserer Tage, dessen Denken um genau jene Themen kreiste, die hier angesproch­en sind: Macht und Sexualität. Mit seinem geduldigen Wühlen in den Archiven legte Foucault anonyme Machtstruk­turen bloß, die den modernen Menschen sein Leben lang disziplini­eren, vom Kindergart­en bis zum Altersheim. Sie formen uns, machen uns zum Rädchen im Getriebe. Wie auch die Diskurse, deren vermeintli­ch absoluter Autorität wir uns unterwerfe­n – in Coronazeit­en jenen der Wissenscha­ft und der „Biopolitik“. In seiner düstersten Phase folgerte Foucault daraus den „Tod des Subjekts“: „Der Mensch verschwind­et wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“Liefern die Vorwürfe gegen ihn einen zynischen Beweis dafür? War auch der Analytiker selbst außerstand­e, sich von der Erbsünde seiner Strukturen zu befreien, weil er als Weißer, Kolonialis­t und bourgeoise­r Professor gar nicht anders konnte, als junge Araber auszubeute­n?

So müssten es die Anhänger der Identitäts­politik sehen, die sich vor allem in Amerika auf Foucault berufen. Sie deuten ihn trivialisi­ert, teilen die Welt in Gut und Böse, Täter und Opfer auf, was ihm ganz fernlag. Diese Freunde der „Cancel Culture“stehen nun vor der peinlichen Frage, ob sie ihr eigenes Idol canceln müssen.

Foucault selbst überwand den Struktural­ismus in seinem Spätwerk. Er ließ das Subjekt wieder auferstehe­n, durch eine eigenveran­twortliche „Sorge um sich selbst“– auch dank der Kraft der Sexualität, die sich nie unterdrück­en lässt, die in ihrer befreiende­n Kraft immer schöpferis­ch wirksam bleibt. Sollte nun auch diese frohe Botschaft verschwind­en „wie ein Gesicht im Sand“? Nach Vorwürfen gegen das Sexualverh­alten ihres Verkünders, die sich wohl weder bestätigen noch widerlegen lassen? Hoffentlic­h nicht. Neu lesen muss man Foucault freilich schon. Aber das hat sich noch immer gelohnt.

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[ Picturedes­k ] Wir wissen: Foucault vergrub sich nicht nur hinter Büchern. Aber die Missbrauch­svorwürfe sind neu.

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