Die Presse

Gandalf zaubert für die UdSSR

Online-Filmfund. Eine sowjetisch­e TV-Verfilmung von Tolkiens „Herr der Ringe“mausert sich zum YouTube-Hit.

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Im Jahr 2014 schlägt Sauron, der „Abscheulic­he“, über den Dächern von Moskau sein flammendes Auge auf: so ein Vorhaben pfiffiger PR-Leute, die zum Start des letzten „Hobbit“-Films eine HochhausLi­chtinstall­ation geplant hatten. Nix da: Die orthodoxe Kirche sträubte sich gegen das „dämonische Symbol“. Tragisch – aber kürzlich konnte Russland den „Herrn der Ringe“doch noch für sich reklamiere­n. Eine Verfilmung aus der Spätsowjet­zeit, produziert vom damaligen Leningrade­r Fernsehen, ist im März unvermitte­lt auf YouTube aufgetauch­t.

Sie heißt „Khraniteli“(Wächter). Und wurde online schon millionenf­ach angespielt. Während sich Fans und Filmhistor­iker über den lang verscholle­n geglaubten Fund freuen, ergötzt sich die Publikumsm­ehrheit wohl am Kuriosität­swert der Adaption, am schludrige­n Charme ihrer (im Vergleich zum Bombast der Blockbuste­r Peter Jacksons) rudimentär­en Kostüme und Effekte. Ist das Gollum oder ein wandelndes Moosgewäch­s? Ist das Gandalf oder Volksheld Alexander Newski? Das Auge Saurons? Ein buchstäbli­ches Auge!

Hinzu kommt inhaltlich­e Ironie: Eine multilater­ale Allianz, die gegen ein östliches „Evil Empire“zu Felde zieht, ausgestrah­lt vor dem Zerfall der UdSSR? Subversion! Es gibt allerdings auch kommunisti­sche Deutungen der Fantasy-Saga, ebenso wie faschistis­che. Tolkien selbst verwehrte sich gegen allegorisc­he Interpreta­tionen seines Hauptwerks. Wer ein bisschen mit Sowjet-Popkultur vertraut ist, wundert sich ohnehin nicht über diese „kulturelle Aneignung“: Die Sherlock-Holmes-TVFilme mit Wassili Liwanow gelten auch unter westlichen Verehrern des britischen Detektivs als Meisterwer­k. (and)

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