Zieht euch warm an, ihr Normalen!
Gastbeitrag. Die Normalen sind aus der Mode? Blödsinn. Sie stellen noch immer die Mehrheit, und wir brauchen sie – nicht nur in Krisenzeiten.
Vorbei! „Normal“gibt es nicht mehr, weder das alte noch das neue Normal. Ein Weltkonzern namens Unilever hat das Wort, und was es bezeichnet, kurzerhand abgeschafft. Bei Verpackungen und Werbeanzeigen für Shampoos und Cremes gibt es normales Haar und normale Haut nicht mehr. Warum? Das Wort „normal“könne dazu führen, dass Kunden sich ausgeschlossen fühlen. Bravo! Ein Weltkonzern macht sich zum „Leader of Wokeness“, wird ab sofort gegen „Diskriminierung in der Beauty-Branche“vorgehen und „gerechter und inklusiver“werden – weil man „den Menschen und dem Planeten Gutes tun will“. Warum bescheiden sein?
Eigentlich hatten wir bis vor Kurzem noch gedacht, „normal“bei Pflegeprodukten bedeute, dass jeder sie benutzen kann, der kein besonderes Problem hat. Das ist doch maximal inklusiv? Irrtum. Normal gilt heutzutage als bloße
Norm, wahrscheinlich von toxischen weißen Männern erfunden. Also weg damit.
Zieht euch warm an, ihr Normalen! Heterosexualität? Ist nicht normal, sondern eine bloße Norm, kann man also ebenso dekonstruieren wie „männlich“oder „weiblich“.
Darüber lachen, das für Spinnereien ideologischer Minderheiten halten, die sich als „woke“empfinden – als aufgeklärte, sensible Menschen, die allen Gutes wollen? Vorsicht. Die meinen das ernst.
Inklusiv ist nur, was exkludiert?
In der schnöden Wirklichkeit aber stellen die, Pardon, Normalen noch immer die Mehrheit im Lande, in westeuropäischen Ländern und den USA sind sie auch noch mehrheitlich weiß. Will Unilever auf 95 Prozent der Bevölkerung verzichten? Oder nur auf alle, die weder trockene noch fettige Haare haben? Inklusiv ist nur, was exkludiert? Da macht man sich glatt
Sorgen um einen Konzern, der auch für Knorr, Pfanni und Vaseline zuständig ist. Was sagt der stinknormale Hausmann dazu? Kocht er künftig ohne Knorr?
Nein, vielleicht darf man darüber wirklich nicht mehr lachen. Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der Minderheiten nicht diskriminiert werden, ganz im Gegenteil: Wer auch nur ein missverständliches Wort benutzt, das jemanden kränken könnte, muss mit schärfsten Konsequenzen rechnen. Aber darf man deshalb gleich die Mehrheit diskriminieren? Je schriller die Anklagen gekränkter Minderheiten, desto mehr fühlen sich alle anderen missbraucht, die sich gezwungen sehen, zu beweisen, was sie alles nicht sind: keine Sexisten, keine Rassisten, keine Trans- oder Sonstwiephoben, keine Menschen also, die andere kränken wollen.
Sowohl die Abstimmung über den Brexit als auch die Wahl von Donald Trump kann man als Hinweis darauf lesen, dass ihre
Wähler, also etwa die Hälfte der Gesellschaft, sich mittlerweile erniedrigt und beleidigt fühlt durch identitätspolitische Angriffe, von „Check Your Privileges“bis „Männer sind Müll“– oder gar durch solche Absurditäten wie die Umbenennung von Frauen in „Menschen, die menstruieren“, damit Transfrauen, deren Biologie Menstruation nun einmal nicht zulässt, nicht gekränkt sind. Dumm nur, dass damit auch Frauen nach der Menopause ausgeschlossen werden.
Spaltung der Gesellschaft
Es gibt sie, die Spaltung der Gesellschaft – in ein Land von bunt-diversen Stämmen, die sich noch nicht einmal sonderlich einig sind, und in eine andere Hälfte, in der alle die leben, die sich weder als Opfer der Verhältnisse sehen noch als Menschen mit irgendwelchen Kollektivmerkmalen definieren möchten.
Mag sein, dass die Normalen irgendwie langweiliger sind als die Regenbogenfraktion. Das liegt vielleicht daran, dass sie keine Zeit haben für aufwendige Selbstinszenierung. So unauffällig sind sie, dass sie seit einem halben Jahrhundert totgesagt werden. Doch in der Krise zeigt sich, dass nichts ohne sie geht: die hundsnormalen Leute, christlich geprägt, verheiratet, ein bis zwei Kinder, geregeltes Einkommen, verlässliche Steuerzahler. Menschen, die das Abweichende und Abenteuerliche keineswegs verurteilen, nur, weil sie es sich selbst längst nicht mehr erlauben. Heterosexuell, doch oft zu müde dafür. Männer, die ebenso wenig wie ihre Frauen scharf darauf sind, die Vorstandsposten zu besetzen und in die Parlamente zu ziehen, sie haben Wichtigeres zu tun. In Krisenzeiten erweist sich, wie dringend man sie braucht, die Handwerker und Lkw-Fahrer, Polizisten und Feuerwehrleute, Verkäufer,
Reinigungskräfte, Pfleger. Verzichtbar sind vielmehr die schrillen Kopfwerker mit den schnittigen Thesen, die Plaudertaschen in den Talkshows, die von Steuergeldern bezahlten Berater und Beauftragten für dieses oder jenes Weh.
Vor einem Ende von „normal“oder gar einem „neuen Normal“, auf das wir uns seit der Panikpandemie namens Corona einstellen sollen, steht das alte Normal wie ein Fels in der Brandung, es ist extrem zäh und überlebensfähig, und wir brauchen es – nicht nur in Krisenzeiten. Normal ist, was Gewohnheit begründet, etwas, das man nicht erklären muss und auf das man sich verlassen kann. Eine Gesellschaft, in der täglich neu ausgehandelt werden soll, wie man miteinander umgeht, endet in Stress und Chaos. Menschen geben sich Regeln, damit sie halbwegs unfallfrei miteinander verkehren können, sie haben es gern überschaubar und nicht grenzenlos, und sie möchten sich darauf verlassen können, dass das, was heute gilt, nicht morgen schon für obsolet erklärt wird. Menschen leben miteinander seit Jahrtausenden nach ähnlichen Mustern, egal, was die neueste Mode vorsieht.
„Normal“ist keine irgendwann einmal (vom Patriarchat, also toxischen Männern) erfundene Norm, Heterosexualität ist nicht „heteronormativ“, sondern, sorry, normal. Was soll an einer schlichten biologischen Tatsache verletzend oder ausschließend sein?
Ganz gewöhnliche Leute
Gewiss gehören zum Normalen auch gesetzte Normen. Doch die Behauptung, dies oder jenes sei „rein normativ“, erinnert an die Vorstellung, Neugeborene seien eine Art leere Tafel, die von der Umwelt beschrieben werden müsse, damit ein Mensch daraus wird. Menschen bringen vieles mit, was Einflüssen nicht unterliegt. Ja, tatsächlich, es gibt eine menschliche Natur, eine angeborene menschliche Konstitution.
Das ist gewiss eine Kränkung für alle, die sich als unendlich fluide empfinden. Doch die Vorstellung von der unendlichen Formbarkeit der Menschen hat nichts Emanzipatorisches, im Gegenteil: Das ist das Spielfeld allerhand autoritärer Regimes, die den neuen Menschen herstellen wollen, zur Not mit Gewalt.
Wie schrieb Hans Magnus Enzensberger vor vierzig Jahren? „Sofern die Gattung fähig ist zu überleben, wird sie ihre Fortdauer vermutlich nicht irgendwelchen Außenseitern verdanken, sondern ganz gewöhnlichen Leuten.“