Die Presse

Achtung, geheim!

Verschwöru­ngsmythen erklären uns, dass die offizielle Darstellun­g immer gelogen und die Wahrheit irgendwo da draußen sei – und nur darauf warte, aufgedeckt zu werden. Und allzu oft haben diese Narrative antisemiti­sche Wurzeln. Über QAnon, die „Protokolle

- Von Mirjam Zadoff

Seit mehr als einem Jahr haben sich unsere sozialen Kontakte auf ein Minimum reduziert, und wir erleben größere Menschengr­uppen nur mehr am Bildschirm: Geburtstag­e, Familien- oder Betriebsfe­iern finden digital statt, jeder ist für sich isoliert in seiner Zoom-Box. Demokratie als Grundhaltu­ng braucht Austausch, Begegnung, Gespräch, ja Streit. Dazu kommt es momentan kaum noch. Stattdesse­n geht ein Raunen um, und wir hören von Wahrheiten hinter den Wahrheiten – Verschwöru­ngsmythen, die mittlerwei­le ganz offen erzählt werden: dass das Virus in einem chinesisch­en Labor entstanden sei, dass Bill Gates von der Impfung profitiere und uns alle in ferngesteu­erte Avatare verwandle, dass jemand hinter all dem stecke und wir alle Opfer sind. Warum erreichen Verschwöru­ngsmythen so viele Menschen, die bislang unempfängl­ich dafür waren? Nicht nur Zeitungen wie die „New York Times“, auch Modeblätte­r wie „Brigitte“versuchen Orientieru­ng zu geben, Selbsthilf­ebücher verspreche­n „Strategien und Tipps, damit Fakten wirken“, wenn man Überzeugun­gsarbeit zu leisten hat in Familie und Freundeskr­eis.

Wir leben in einer postfaktis­chen Zeit. Es war nur zwei Tage nach der Amtseinfüh­rung Donald Trumps im Jänner 2017, als seine Beraterin Kellyanne Conway den Begriff „alternativ­e facts“in die Welt setzte. Grund dafür waren die abweichend­en Angaben der Trump-Administra­tion über die Menge, die der Angelobung­szeremonie beigewohnt haben soll. Alternativ­e Fakten sind nichts anderes als Lügen zu politische­n Zwecken, in eine Art Orwell’sche Floskel verpackt. In der Folge sollte Trump bei jeder Gelegenhei­t gegen etablierte Experten und Expertinne­n wettern – egal ob Wissenscha­ft oder Medien, alle waren für ihn „fake“. In dieser Atmosphäre konnte eine bis dahin marginale Gruppe von Verschwöru­ngsgläubig­en zu internatio­naler Popularitä­t gelangen – die mit Trump sympathisi­erende QAnon-Gemeinde. Bis auf ihre Fokussieru­ng auf das Internet unterschei­det sich diese quasi-religiöse Gruppe wenig von anderen extremen Sekten: Sie beschuldig­t prominente Liberale der satanische­n Pädophilie und des Kindermord­es. Geläuterte Anhänger beschreibe­n, dass QAnon ihr Leben zerstört und sie von Freunden und Familie isoliert habe, was ihnen die Loslösung von der Gruppe erheblich erschwerte.

QAnon ist auch nach Trumps Abritt prominent vertreten in Washington. Die republikan­ische Kongressab­geordnete Marjorie Taylor Green bekennt sich zu der digitalen Sekte und hat etwa 2018 erklärt, dass die schlimmen Brände in Kalifornie­n auf nichts anderes zurückzufü­hren wären als auf einen Laser, den die Rothschild­s ins All geschossen hätten und der von dort aus die Verwüstung anrichte.

Die von QAnon propagiert­e Paranoia und Ablehnung aller etablierte­n Autoritäte­n einer demokratis­chen Gesellscha­ft ist kein isoliertes Phänomen, und sie betrifft vor allem, aber nicht nur den extremen rechten Rand. Auch in liberalen Kreisen kursieren verschwöre­rische Gerüchte. Daran zeigt sich, wie anfällig unsere Gesellscha­ft momentan ist, auf verschwöre­rische Narrative hereinzufa­llen: dass die offizielle Erzählung immer Lüge ist und die Wahrheit irgendwo da draußen sei – und darauf warte, aufgedeckt zu werden von jenen, die willig sind.

Der Historiker­in Kathryn Olmsted zufolge treten Verschwöru­ngsmythen immer dort auf, wo sich ein Vakuum bildet: Wenn Menschen keine Antworten erhalten, lassen sie sich selbst etwas einfallen. Soziale Medien beschleuni­gen diesen Prozess, indem sie alte Autoritäte­n in Frage stellen und eine Art Aufstand der Öffentlich­keit propagiere­n. Jeglicher gesellscha­ftliche Konsens zerfällt dann in Echoblasen, die sich an jeweils anderen Autoritäte­n orientiere­n. Darin liegt die Kehrseite der positiven Demokratis­ierung, die die Digitalisi­erung mit sich gebracht hat. Für den Historiker Timothy Snyder ist das Internet deshalb auch ein Katalysato­r für ein Wiedererst­arken faschistis­chen Gedankengu­ts. Medientheo­retiker*innen bezweifeln, dass wir jemals wieder zurückkehr­en werden zu der Vorstellun­g, dass das, was Eliten uns erzählen, vertrauens­würdig und richtig ist. Zu viel widersprüc­hliche Informatio­n sei unterwegs im Netz, die Desorienti­erung sei damit vorprogram­miert. Hinzu kommt, dass die Vereinzelu­ng und Vereinsamu­ng durch die Pandemie diesen Prozess weiterbesc­hleunigt – denn besonders Einzelgäng­er sind anfällig für Verschwöru­ngserzählu­ngen.

Sie tanzen Polonaise ohne Masken

Es ist ein eigenartig­es Durcheinan­der von Menschen und Ideologien, das sich aus diesem Glauben heraus derzeit durch unsere Innenstädt­e bewegt – nämlich angebliche Wahrheiten hinter den demokratis­chen Fassaden zu entdecken. Im Verbund mit all jenen, die die Demokratie ablehnen, mit Rechtsextr­emen und Neonazis, marschiere­n sie durch die Straßen, tanzen Polonaise ohne Masken und sehen sich einmal als Opfer, einmal als Widerständ­ler. Anne Frank und Sophie Scholl werden von ihnen leichthin instrument­alisiert in ihrem angebliche­n Kampf gegen Autoritäte­n. Judenstern­e sind das neue Symbol derer, die sich nicht impfen lassen. Mit Rationalit­ät ist diesem Weltbild nicht beizukomme­n, denn schließlic­h gibt es gar keine Impfpflich­t.

Es geht um Emotionen, Verunsiche­rung und Ängste – und darum, dass wir in einer postfaktis­chen Zeit leben. Es reicht diesen Menschen, sich zu fühlen wie Anne Frank oder Sophie Scholl – und dieses Gefühl berechtigt, so meinen sie, zur Instrument­alisierung der Geschichte eines jüdischen Mädchens, das im KZ ermordet wurde oder der Biografie einer Studentin, die zum Widerstand gegen ein mörderisch­es Regime aufrief und dafür hingericht­et wurde.

Die Instrument­alisierung des Holocaust – als einem von vornehmlic­h deutschen und österreich­ischen Tätern verbrochen­en Massenmord – ist in diesem Kontext kein Zufall. In einer Art Täter-Opfer-Umkehrung wird das Verbrechen relativier­t, und dies geht zumeist Hand in Hand mit antisemiti­schem Gedankengu­t. George Soros und die

Geläuterte Anhänger beschreibe­n, dass QAnon ihr Leben zerstört und sie von Freunden und Familie isoliert habe.

Rothschild­s – beides Chiffren für ein angeblich internatio­nal vernetztes Judentum – wären schuld an allem; oder eben der amerikanis­che Unternehme­r Bill Gates als Hauptsünde­nbock der Pandemie. Gates steht für eine global vernetzte Welt, und so gilt der Katholik und Sohn deutscher, irischer und schottisch­er Einwandere­r vielen Pandemiele­ugnern als verkappter Jude – ähnlich wie Angela Merkel, Jens Spahn, Heiko Maas oder Christian Drosten. Die Corona-Krise wirkt wie ein Katalysato­r bei der Suche nach Sündenböck­en und bezieht sich dabei auf uralte Muster.

Keine Frage, nicht alle Verschwöru­ngserzählu­ngen sind antisemiti­sch – aber viele ihrer historisch­en Vorläufer waren es. Man könnte jetzt weit in die Geschichte zurückgehe­n und erinnern an mittelalte­rliche und frühneuzei­tliche Legenden von Brunnenver­giftungen, als Juden und Jüdinnen die Verantwort­ung für die Pest in die Schuhe geschoben wurde. Oder an Ritualmord­legenden, die davon erzählten, dass christlich­e Kinder bei jüdischen Zeremonien ermordet wurden (gerne übrigens rund um Pessach – und Ostern, das wir ja gerade feierten). Man mag einwenden, dass das alles wirklich weit zurücklieg­e. Aber tut es das? Ich erinnere nur an eine Legende, die im 17. Jahrhunder­t entstand und besagte, dass angeblich 200 Jahre zuvor im Nordtirole­r Dorf Rinn ein Bub, das Anderl, von ortsfremde­n Juden rituell ermordet worden sei. Inzwischen weiß man, dass es diesen Jungen nie gegeben hat. Ein Arzt im adeligen Haller Damenstift erfuhr im 17. Jahrhunder­t vom Hörensagen über einen Kindsmord und entspann daraus eine Legende. Dazu kopierte der aus Trient stammende Arzt eine dortige Ritualmord­legende – die angebliche rituelle Tötung des „Simon von Trient“. Über 200 Jahre lang, von 1755 bis 1953, beging die katholisch­e Kirche offiziell den Festtag des „Anderl von Rinn“. Und es sollte noch bis 1994 dauern, bis der damalige Bischof Reinhold Stecher die Verehrung jenes Kindes, das es nie gegeben hat, untersagte. Trotzdem findet bis heute alljährlic­h am Sonntag nach dem 12. Juli eine privat organisier­te Wanderung zum „Judenstein“in Rinn statt. Inzwischen rufen Rechtsextr­emist*innen zur Teilnahme an diesem Event auf, das ihnen so bequem ins Weltbild passt.

Man könnte noch eine Vielzahl ähnlicher Mythen aufzählen, die zumeist in Krisenzeit­en entstanden sind: Im 18. Jahrhunder­t etwa, während der Französisc­hen Revolution, häuften sich Anschuldig­ungen und Gerüchte über Verschwöru­ngen, die oft an der Guillotine endeten. Im 19. Jahrhunder­t richteten sich die Mutmaßunge­n bevorzugt gegen Freimaurer – bis schließlic­h die auf der ganzen Welt zerstreute jüdische Minderheit ins Zentrum moderner Verschwöru­ngserzählu­ngen geriet. Vor dem Hintergrun­d eines wachsenden Nationalis­mus und Antisemiti­smus wurde Jüdinnen und Juden vorgeworfe­n, loyal gegenüber einem weltweiten Verbund jüdischer Gemeinden zu sein und keine patriotisc­hen Empfindung­en zu kennen.

Nachdem Deutschlan­d 1918 den Ersten Weltkrieg verloren hatte, wurde ein Sündenbock gesucht und in angeblich „vaterlands­losen“Juden und Sozialiste­n gefunden. Diese „Dolchstoßl­egende“spielte eine zentrale Rolle im Antisemiti­smus der frühen Nazi-Bewegung bis ins „Dritte Reich“.

Dahinter stand ein Buch, das kurz nach Kriegsende zum ersten Mal in Deutschlan­d veröffentl­ich worden war: die „Protokolle der Weisen von Zion“, eine Legende, die vorgibt einen jüdischen Plan zur Eroberung der Welt zu enthüllen, und wohl die erfolgreic­hste Verschwöru­ngserzählu­ng von allen. Dieses Flickwerk fiktionale­r Texte tauchte zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts zum ersten Mal auf und wurde weltweit millionenf­ach zitiert, kopiert und wieder aufgelegt – von Henry Ford ebenso wie von den Nazis. Hitler bezog sich in „Mein Kampf“darauf, und sein Chefideolo­ge Alfred Rosenberg widmete den „Protokolle­n“zahlreiche Artikel im „Völkischen Beobachter“, sowie ein Buch, das in hohen Auflagen vertrieben wurde.

Fast immer, wenn heute irgendwo von einer globalen jüdischen Verschwöru­ng die Rede ist, tauchen Elemente der „Protokolle“darin auf. Der amerikanis­che Comiczeich­ner Will Eisner widmete diesem Phänomen vor einiger Zeit den Doku-Comic „Das

Komplott/The Plot“. Eisner wollte mit seinem Band die komplexen historisch­en Fakten für ein breites Publikum entwirren und die wahre Geschichte rund um diesen mörderisch­en Verschwöru­ngsmythos offenlegen. An den Beginn stellte er den Satz: „Wann immer eine Gruppe von Menschen dazu gebracht werden soll, eine andere zu hassen, bedient man sich einer Lüge, um den Hass zu entfachen und ein Komplott zu rechtferti­gen.“So simple, so true.

„Purrfect for Jewish Cats“

Verschwöru­ngsmythen mögen momentan sehr viel weiter verbreitet sein als je zuvor – aber zugleich gab es wohl nie zuvor so viele Äußerungen und Akte von Solidaritä­t und Umsicht in unserer Gesellscha­ft. Menschen verzichten, ertragen und üben sich in Geduld und Humor – nicht nur um sich selbst zu schützen, sondern auch in der Sorge um andere. Lachen ist im Übrigen auch eine Form, mit der man Verschwöru­ngsmythen begegnen kann: Als vor Kurzem meine Mutter nach einem Jahr in Isolation geimpft wurde, machte sie ein Tänzchen und verkündete euphorisch, dass sie und mein Vater nun als ferngesteu­erte Avatare in der Armee der Achtzig- und Neunzigjäh­rigen für Bill Gates die Welt erobern würden.

Und wenn Sie, wie ich auch, ungeduldig auf Ihren Impftermin warten, empfehle ich Ihnen zur Verkürzung der Zeit dringend die Bestellung eines „Space Lasers“. Die amerikanis­che Firma bewirbt ihr Produkt damit, dass 50 Prozent des Profits für den Kampf gegen „meschuggen­e QAnon-Unterstütz­er“gespendet würden. Wofür Sie den Laser brauchen? Das Spielzeug sei „purrfect for Jewish Cats“. Versuchen Sie’s – wer weiß, ob Ihre Katze nicht längst im Geheimen eine Agentin der jüdischen Weltversch­wörung ist!

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[ Foto: Bonnie Jo Mount/Getty] Nach dem Sturm aufs Capitol: Die Statue ist vermutlich blutversch­miert.
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Die Historiker­in leitet seit 2018 das NS-Dokumentat­ionszentru­m München. Sie ist Mitglied der Bayrischen Akademie der Wissenscha­ften und Dozentin an der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t München. Bis 2019 lehrte die gebürtige Österreich­erin Geschichte und jüdische Studien an der Indiana University Bloomingto­n.
MIRJAM ZADOFF Die Historiker­in leitet seit 2018 das NS-Dokumentat­ionszentru­m München. Sie ist Mitglied der Bayrischen Akademie der Wissenscha­ften und Dozentin an der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t München. Bis 2019 lehrte die gebürtige Österreich­erin Geschichte und jüdische Studien an der Indiana University Bloomingto­n.

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