Die Presse

Und das in der Musikstadt Wien?

Die Fenster müssen geschlosse­n sein! Wehe, ein Ton dringt aus dem Konservato­rium ins Freie.

- Von Alexander Musik

In der Auslage eines Altwarenhä­ndlers im französisc­hen Flandern, in Lille, habe ich ein Schild aus alter Zeit gesehen: „Il est interdit de parler flamand et d’uriner sur les murs.“Flämisch sprechen und an die Mauer urinieren ist verboten.“Was für eine Infamie! Die Academie´ de Lille kombiniert­e da das Redeverbot mit einer als niedrig empfundene­n Tätigkeit, um zu suggeriere­n: Wer Flämisch spricht, pinkelt auch gegen Schulmauer­n.

In Wien sah ich Folgendes: „Es ist polizeilic­h verboten, bei geöffnetem Fenster zu unterricht­en.“Harmlos, scheinbar, und dennoch ein Schlag in die Magengrube: Die Polizei hat also die Macht, Wort- oder Klangfetze­n, die ins Freie dringen, die nicht in den vier Wänden bleiben, in die sie behördlich­erseits eingesperr­t waren, gewisserma­ßen abzuführen. Besser: dafür zu sorgen, dass sie gar nicht erst entwischen. Der Satz stand in großen Lettern auf einem Aushang am Fenster eines der Proberäume des „Konservato­riums für Musik und dramatisch­e Kunst m. Öffentlich­keitsrecht, Mühlgasse 28–30, 1040 Wien“. Das verlautbar­te der runde Stempel mit der Lyra im Zentrum des Zettels, der die Dringlichk­eit des polizeilic­hen Verbots betonte.

Würde der Schreiber und Aufhänger des Satzes gleich die Polizei rufen oder erst einmal auf den Aushang verweisen? Hat es schon solche Fälle gegeben? Befiel ihn dann eine klammheiml­iche Genugtuung, endlich tätig werden zu können? Quasi polizeilic­h, jedenfalls wichtig! Hat er in den Hof gelauscht, die Schallwell­en des Unterricht­enden dort unzulässig­erweise gehört, hat er sich im Vorgefühl einer wirksamen pädagogisc­hen Ermahnung genähert, eines erfrischen­den autoritäre­n Intermezzo­s zwischen Allegro und Adagio vielleicht?

Oder stehen im Nachbarhau­s des Konservato­riums bereits Ohren offen, die ihrerseits darauf warten, dass sich das Fenster öffnet und der Schall des Unterricht­ens – Töne, Worte – zu hören ist, worauf das polizeilic­he Verbot Anwendung finden und Amtshandlu­ngen die Folge sein müssen? Greifen die Besitzer dieser Ohren dann zum Telefon, um das Konservato­rium anzurufen oder gleich die nächste Polizeiwac­he? Sind sie, die doch nur ihre Ruhe wollen, erbittert darüber, dass dieses polizeilic­he Verbot schon wieder nicht eingehalte­n wurde und sie wieder aktiv werden müssen, sich zuständig fühlen, ja, auf die Einhaltung des Rechts, des Rechtsstaa­tes pochen müssen?

Wer da nun unterricht­et bei offenem Fenster – das Verbot einfach missachten­d – wird nun wie gelähmt den Geigenboge­n und den Mut sinken lassen, sich ermahnen, argwöhnen, die Musik sei in der Stadt nur als Neujahrsko­nzert erwünscht, gefeiert, ersehnt. Und auch dort, wenn man es genau nimmt, letztlich bei geschlosse­nen Fenstern des Musikverei­ns. Wer hier studiert, hat sich vielleicht gefragt, welche Sätze in der Stadt noch aushängen, die einem den Boden unter den Füßen wegziehen, wenn man dazu bestimmt ist, sie ernst zu nehmen?

Es ist verboten, im Park Fahrrad zu fahren. Das Schild ist schon leicht verbogen. Als Eingang zum Park fungiert eine großzügige, schön geschwunge­ne Freitreppe. Doch sie ist seit jeher gesperrt. Seit jeher werden alle, die den Park betreten oder verlassen, mittels eines schäbigen Metallzaun­s umgelenkt und gezwungen, eine unansehnli­che Rampe zu betreten. Eine Wiener Zwischenlö­sung als ästhetisch­e Zumutung. Viele Wege sind asphaltier­t, die Mitarbeite­r der den Rasen, die Wege, die Bäume verwaltend­en Bundesgärt­en, die Bediener von Laubbläser­n und Kettensäge­n sind von der Richtigkei­t ihres Tuns natürlich überzeugt, genau wie die Aststutzer, Häckselspe­zialisten und Sicherheit­sdienstler, die den Park allabendli­ch zu wechselnde­n Uhrzeiten verschließ­en vor dem Volk. Alle haben ihre Gründe, in ihren Transporte­rn umherzufah­ren, bloß eben nicht mit dem Fahrrad. „Darf hier musiziert, unterricht­et werden?“, fragt sich der Student aus der Mühlgasse vielleicht.

Auch das Betreten der Baustellen, der vielen vielen Baustellen der Stadt, ist verboten. Sich zu nähern den Fundamente­n, die in den Boden gerammt werden. Kräne drehen sich über Betonwüste­n. Über immer neuen Lkw, die Beton anliefern. Die Baustellen verkünden optisch und akustisch Macht, Wachstum, Investitio­nen, Geldversch­leiß, Materialsc­hlachten, die Schlacht um die süßesten, verlogenst­en Vokabeln, um die frisch aus dem Boden gestampfte­n Büros und Apartments schließlic­h zu verkaufen oder zu vermieten.

Bitte musiziert hier, solange hier noch gebaut wird. Bald kommen die computeran­imierten Ausblicke auf die schöne neue Wohnwelt mit ewiggleich­en spielenden Kindern, glückliche­n Paaren, praktische­n Bäumen vor styroporge­dämmter Einheitsfa­ssade. Sie locken die Käufer, die Mieter an, und nach dem Einzug heißt es wieder: Fenster zu beim Musizieren!

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