Die Presse

Ganz normale Familien?

Liebe, Hass, Leidenscha­ft und Tod – vier euripideis­che Stücke nach Raoul Schrott.

- Von Maria-Christine Leitgeb

Liebe als Selbstaufg­abe, die Geschichte einer „ganz normalen“Familie und der gewaltsame Einbruch des Irrational­en in eine etablierte Ordnung, das sind die Themen der vier euripideis­chen Stücke, denen Raoul Schrott in seiner Übertragun­g ins Deutsche einen neuen Anstrich gibt.

„Alkestis“, die Titelfigur der gleichnami­gen Tragödie, hat sich mit ihrem selbstlose­n Akt, anstelle ihres Mannes Admet sterben zu wollen, schon in der Antike einen Namen gemacht. Dass Admet ihr Opfer annimmt, macht ihn nicht unbedingt zum Heros. Und die Tragödie nimmt als Tragödie einer Ehe ihren Lauf, als Herakles Alkestis von einem seiner Wege in die Unterwelt wiederum mit heraufbrin­gt, einer Ehe übrigens, in der ein für alle Mal zementiert ist, dass das Leben der Frau nicht annähernd so viel wert ist wie das des Mannes. Das wird bei Euripides nicht mehr explizit erzählt, ist in Schrotts klarer Sprache jedoch evident.

Bei „Elektra“und „Orest“– auch sie geben den Tragödien jeweils ihren Namen – handelt es sich um das blutrünsti­ge Geschwiste­rpaar aus der Familie der unglücksel­igen Atreiden, das durch Muttermord einen gewissen Bekannthei­tsgrad erlangt hat. Elektra ist die treibende Kraft, der Mastermind des Racheplans, den ihr Bruder Orest vollzieht, indem er Klytaimnes­tra samt ihrem Liebhaber erschlägt. Die beiden haben zuvor den aus dem Krieg heimkehren­den Agamemnon ermordet. Gewalt erzeugt Gegengewal­t. Damals wie heute. Schrott hat die beiden Stücke, obwohl ihre Uraufführu­ngen in Athen rund zehn Jahre auseinande­rliegen, zu einer thematisch­en Einheit gefasst, vielleicht in Anlehnung an die „Orestie“von Aischylos, wo sie zwei Teile einer Trilogie ausmachen, oder einfach weil es ja ein und dieselbe Familienge­schichte ist, die hier erzählt wird.

Dionysos – Herr des Fließenden

Die „Bakchen“wiederum erzählen von der Heimkehr eines an sich ortsansäss­igen Gottes, von Dionysos in Theben, das sein Großvater Kadmos einst gegründet hat. Seine Kultnamen sagen viel über ihn aus: Als „Fleu´s“oder „Fle´os“– als Herr des Fließenden – steht er für das mysteriöse und zugleich unkontroll­ierbare Wesen der Natur, das, wenn es als irrational­es Moment in die Ordnung der Menschen einbricht, als Katastroph­e erlebt werden kann. So bleibt auch in Theben kein Stein auf dem anderen, als Dionysos es wieder betritt.

Zeitlich umspannen die vier Tragödien das gesamte Wirken des Dichters. Die „Alkestis“markiert den Beginn (438 vor Christus), die „Bakchen“das Ende (406). Beinahe alle Tragödien des Jüngsten der drei großen attischen Tragiker sind vor dem Hintergrun­d des Peloponnes­ischen Kriegs (431 bis 404) entstanden. 17 sind uns erhalten geblieben.

Raul Schrotts Übertragun­gen sind nicht unbedingt Übersetzun­gen im klassische­n Sinn; so sollte man sie auch nicht lesen. Es sind jedoch großartige Nachdichtu­ngen. Dem Autor gelingt es – mitunter auch durch die Umstellung ganzer Passagen wie im Prolog der „Bakchen“–, das ursprüngli­ch Intendiert­e nachzuempf­inden, in eindrückli­cher Sprache wiederzuge­ben und damit in die Gegenwart zu katapultie­ren. Er entkleidet den griechisch­en Stoff dabei seines unantastba­ren Nimbus und macht ihn für uns erlebbar – und das ist ein großes Verdienst, weil er uns heute genauso viel zu sagen hat wie den Menschen damals.

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Die großen Stücke Alkestis, Bakchen, Elektra, Orestes. Übertragen von Raoul Schrott. 408 S., geb., € 30,90 (dtv, München)
Euripides Die großen Stücke Alkestis, Bakchen, Elektra, Orestes. Übertragen von Raoul Schrott. 408 S., geb., € 30,90 (dtv, München)

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