Ganz normale Familien?
Liebe, Hass, Leidenschaft und Tod – vier euripideische Stücke nach Raoul Schrott.
Liebe als Selbstaufgabe, die Geschichte einer „ganz normalen“Familie und der gewaltsame Einbruch des Irrationalen in eine etablierte Ordnung, das sind die Themen der vier euripideischen Stücke, denen Raoul Schrott in seiner Übertragung ins Deutsche einen neuen Anstrich gibt.
„Alkestis“, die Titelfigur der gleichnamigen Tragödie, hat sich mit ihrem selbstlosen Akt, anstelle ihres Mannes Admet sterben zu wollen, schon in der Antike einen Namen gemacht. Dass Admet ihr Opfer annimmt, macht ihn nicht unbedingt zum Heros. Und die Tragödie nimmt als Tragödie einer Ehe ihren Lauf, als Herakles Alkestis von einem seiner Wege in die Unterwelt wiederum mit heraufbringt, einer Ehe übrigens, in der ein für alle Mal zementiert ist, dass das Leben der Frau nicht annähernd so viel wert ist wie das des Mannes. Das wird bei Euripides nicht mehr explizit erzählt, ist in Schrotts klarer Sprache jedoch evident.
Bei „Elektra“und „Orest“– auch sie geben den Tragödien jeweils ihren Namen – handelt es sich um das blutrünstige Geschwisterpaar aus der Familie der unglückseligen Atreiden, das durch Muttermord einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt hat. Elektra ist die treibende Kraft, der Mastermind des Racheplans, den ihr Bruder Orest vollzieht, indem er Klytaimnestra samt ihrem Liebhaber erschlägt. Die beiden haben zuvor den aus dem Krieg heimkehrenden Agamemnon ermordet. Gewalt erzeugt Gegengewalt. Damals wie heute. Schrott hat die beiden Stücke, obwohl ihre Uraufführungen in Athen rund zehn Jahre auseinanderliegen, zu einer thematischen Einheit gefasst, vielleicht in Anlehnung an die „Orestie“von Aischylos, wo sie zwei Teile einer Trilogie ausmachen, oder einfach weil es ja ein und dieselbe Familiengeschichte ist, die hier erzählt wird.
Dionysos – Herr des Fließenden
Die „Bakchen“wiederum erzählen von der Heimkehr eines an sich ortsansässigen Gottes, von Dionysos in Theben, das sein Großvater Kadmos einst gegründet hat. Seine Kultnamen sagen viel über ihn aus: Als „Fleu´s“oder „Fle´os“– als Herr des Fließenden – steht er für das mysteriöse und zugleich unkontrollierbare Wesen der Natur, das, wenn es als irrationales Moment in die Ordnung der Menschen einbricht, als Katastrophe erlebt werden kann. So bleibt auch in Theben kein Stein auf dem anderen, als Dionysos es wieder betritt.
Zeitlich umspannen die vier Tragödien das gesamte Wirken des Dichters. Die „Alkestis“markiert den Beginn (438 vor Christus), die „Bakchen“das Ende (406). Beinahe alle Tragödien des Jüngsten der drei großen attischen Tragiker sind vor dem Hintergrund des Peloponnesischen Kriegs (431 bis 404) entstanden. 17 sind uns erhalten geblieben.
Raul Schrotts Übertragungen sind nicht unbedingt Übersetzungen im klassischen Sinn; so sollte man sie auch nicht lesen. Es sind jedoch großartige Nachdichtungen. Dem Autor gelingt es – mitunter auch durch die Umstellung ganzer Passagen wie im Prolog der „Bakchen“–, das ursprünglich Intendierte nachzuempfinden, in eindrücklicher Sprache wiederzugeben und damit in die Gegenwart zu katapultieren. Er entkleidet den griechischen Stoff dabei seines unantastbaren Nimbus und macht ihn für uns erlebbar – und das ist ein großes Verdienst, weil er uns heute genauso viel zu sagen hat wie den Menschen damals.