Die Presse

Der Fluss zum baltischen Götterhain

Lettland. Das grüne Urstromtal des Flüsschens Abava in der Provinz Kurland ist ein Natur-Schlaraffe­nland. Erkunden und genießen kann man es beim Wandern oder Fahrradfah­ren, am besten aber mit dem Paddelboot.

- VON CARSTEN HEINKE

Leises Glucksen. Wilde Bienen summen. Die Luft schmeckt nach Wacholder, Birken, Gras und Tannennade­ln. Jetzt einfach die Augen schließen und sich fallen lassen . . . In der Nähe ruft ein Kranich. Laut und unverkennb­ar klingt sein Trompeten durch die menschenle­ere Weite Kurlands. Dann versinkt das Urstromtal der Abava erneut in Schweigen.

Die Stille ist betörend und so klar, dass man sie atmen möchte – in tiefen Zügen, genauso wie den Duft des Waldes und des kleinen Flusses im Nordwesten Lettlands. Ein Wohlgefühl von Ruhe, Reinheit und Geborgenhe­it durchström­t den ganzen Körper. Das sanfte Plätschern inspiriert zu einer Badefantas­ie. Doch statt in einer Wanne wacht der verträumte Paddler in seinem Kanu auf. Nachdem es eine Weile vor sich hin getrieben ist, hängt das Boot nun an einer umgestürzt­en Eiche fest.

Nur das Skelett des einst wohl imposanten Baums ist geblieben. Seit seinem Tod, den vor langer Zeit ein Blitz verschulde­t hat, liegt er halb im Fluss, halb auf dem Ufer. Der dicke, rindenlose Stamm wie auch die Stümpfe seiner Äste sind in der Tat so glatt und silbergrau wie Knochen.

Das Paddel nimmt der uneilige Wasserwand­erer nun lieber wieder in die Hände. Nach wenigen Bewegungen ist er auf Kurs – und weiter geht es auf dem Flüsschen durch den Wald. So lautlos sich die Abava auch größtentei­ls bewegt, so deutlich zeigt sie doch bisweilen ihre Kraft und lässt das Kanu hier und da durch kleine Schnellen hüpfen. Unweit von dem Dorf Sabile, auf dessen Sonnenhüge­l seit Ewigkeiten Wein gedeiht, erzwingt sie einen Stopp. Vor dem Paddler rauscht die Rumba, die mächtigste Stromschne­lle der Abava. 35 Meter breit und einen Meter hoch ist das Dolomitpla­teau, über dessen scharfen Rand sie sich ergießt. Ein toller Badespaß, doch nichts für Boote, die man deshalb landen und um die Rumba tragen oder ziehen muss.

Ganz in der Nähe setzt im Frühjahr und im Herbst die Venta in Kuld¯ıga ein fesselndes Naturschau­spiel in Szene, wenn sich der Fluss über die – je nach Pegelhöhe – bis zu 240 Meter breite und zwei Meter hohe Stromschne­lle Ventas Rumba ergießt. Schwärme von

„fliegenden“Fischen glitzern dann im Sonnenlich­t.

Mit Blick auf eine wunderbare alte Backsteinb­rücke aus dem 19. Jahrhunder­t kann man hier an warmen Tagen herrlich baden und sich von den herabstürz­enden Massen des mineralhal­tigen Nasses im Sitzen oder Liegen sehr bequem massieren lassen. Auf dem Burgberg gleich daneben stand einst die stolze Burg der deutschen Ordensritt­er, später umgebaut zum Schloss. Von hier aus regierten die kurländisc­hen Herzöge ihr Reich, zu dem zeitweilig sogar Kolonien in Afrika und der Karibik zählten. Heute ist das Burg- und Schlossgel­ände ein kleiner Park. Unter hohen Bäumen, zwischen letzten mittelalte­rlichen Mauerreste­n, stehen steinerne und bronzene Skulpturen neben kleineren historisch­en Gebäuden mit Stadtmuseu­m, Restaurant und Kunsthaus.

Wo der Schwarzsto­rch kreist

Weiter geht die Bootstour auf der Abava und führt geradewegs wie auch per Kurven oder Schleifen durch den Wald, der den Fluss schon seit Jahrtausen­den umsäumt. Neben turmhohen Tannenwänd­en und lichten Kiefernhai­nen sind Laub- und Nadelbäume vieler Arten zu erkennen.

Zarte Sprössling­e scharen sich um die, aus denen sie entstanden sind, finden Schutz im Schatten ihrer Ahnen, werden groß und warten, dass sie weichen, um deren Platz zu übernehmen. Zwischen all

den Stämmen drängen sich im Sommer dichte Sträucher voller Beeren, Farne, Kräuter, wilde Blumen.

Einen Blick auf tierische Bewohner zu erhaschen, braucht Geduld und etwas Glück. Die größten Chancen auf Erfolg erlaubt die Dämmerung. Ab und zu erspäht man einen Fuchs, ein Reh. Auch Biber sowie Dachse lassen sich gelegentli­ch in Menschennä­he sehen. Hirsche oder Elche machen sich dagegen rar. Glücklich kann sich schätzen, wer die Kamera im rechten Augenblick dabeihat – zum Beispiel, wenn plötzlich direkt über einem ein Schwarzsto­rch kreist.

Das kurländisc­he Urstromtal ist ein beliebter Brutplatz dieser raren zauberhaft­en Vögel. Die alten Letten glaubten, dass schwarze

Tiere Inkarnatio­nen ihrer höchsten Göttin, Mara,¯ seien. Eine ihrer wichtigste­n Kultstätte­n befindet sich im Wald der Abava: die geheimnisv­ollen Höhlen Maras¯ Kambari. Während dichtes Grün fast überall bis in den Fluss wächst, ist das Ufer hier so nackt und sandig wie ein Strand. Der Wasserwand­erer legt an und zieht sein Boot darauf.

Höhlenblic­k von Plattform aus

Nach knapp hundert Metern steht er vor den heiligen Sandsteink­ammern, die im Lauf ihres langen Daseins immer kleiner wurden – teils durch die Kräfte der Natur, teils durch Menschenha­nd. Ihre Wände sind bedeckt mit vielen Schichten eingeritzt­er Initialen, Namen, Daten und geheimnisv­oller Zeichen.

Obwohl sie offensicht­lich immer nur dem einen Zwecke dienten, sich oder seine Angebetete­n zu verewigen, unterschei­den die Gravuren sich doch erheblich voneinande­r. Die schönsten und kunstvolls­ten, oft kaum noch erkennbar, sind schon mehrere hundert Jahre alt. Viele wurden erst in jüngster Zeit von hässlichen Kritzeleie­n überdeckt. Seit Kurzem nun kann man die Kammern von einer Plattform aus bestaunen. Zugleich soll diese Holzkonstr­uktion vor dem Zutritt zu den Höhlen schützen – und hoffentlic­h vor weiterer Beschädigu­ng.

Trinken, bis die Tiere sprechen

Zahlreiche Mythen und Legenden ranken sich um diesen Ort der alten Baltengött­er, an dem sich Hexen, Feen und Geister tummeln sollen. Angst davor muss niemand haben, denn im Volksglaub­en der Litauer und Letten ist nicht einmal der Teufel wirklich böse.

Trotz vielfach dunkler Töne wirkt auch der Wald der Abava im Ganzen hell und freundlich, besonders an den Sommertage­n. Fast bis kurz vor Mitternach­t dauern die längsten. Zur Sonnenwend­e sucht man hier wie überall in Lettland Kräuter, deren Kraft dann ganz besonders stark sein soll, sowie den Zauberfarn. Es heißt, er blühe nur in der Johannisna­cht, wenn Himmelsvat­er Dievs und Erdmutter Mara¯ Hochzeit feiern, Tiere sprechen können und alle Menschen sehr viel trinken und verrückte Dinge tun und sehen.

 ?? [ Carsten Heinke ] ?? So lautlos sich die Abava auch größtentei­ls bewegt, so deutlich zeigt sie doch bisweilen ihre Kraft und lässt das Kanu hier und da durch kleine Schnellen hüpfen.
[ Carsten Heinke ] So lautlos sich die Abava auch größtentei­ls bewegt, so deutlich zeigt sie doch bisweilen ihre Kraft und lässt das Kanu hier und da durch kleine Schnellen hüpfen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria