„Das Ende der Pandemie ist eine Entscheidung“
Die Organisationsberaterin Barbara Heitger hat viele Krisen erlebt. Im Interview analysiert sie, was die jetzige so besonders macht, was gegen den Verlust von Nähe und Orientierung hilft und wie die Pandemie enden wird.
Die Presse: Was sagen Sie zu diesem Bild: In vielen Unternehmen treibt das Management gerade vehement Veränderungen voran. Aber die Führungskräfte sind erschöpft, die Mitarbeiter auch. Beide haben Angst um ihre Jobs und verlieren im Home-Office zunehmend die Nähe zum Unternehmen. Stimmt dieses Bild? Barbara Heitger: Für die aktuelle Phase stimmt es. Katastrophen, wie diese Pandemie eine ist, bestehen aus mehreren Phasen. Vor der Katastrophe ist da eine Ahnung von Kontrollverlust und Verwundbarkeit. In der Aufprallphase kommen Schock, Panik und Verwirrung dazu. Man kann nicht glauben, was da passiert. Dann folgt die „heroische“Phase mit Trauer und Verlust, aber auch einem „Wir sind Helden“-Gefühl. Ihr folgt die „Flitterwochen“-Phase, ein emotionales Hoch mit Solidarität, Optimismus und Dankbarkeit. Doch dann: der Rückschlag in die Phase der Ernüchterung, mit Aggression, Stress, Frustration, Erschöpfung und Dünnhäutigkeit. Da stehen wir gerade. Diese Pandemie hat außerdem einige disruptive Besonderheiten.
Welche sind das?
Es herrscht große Unsicherheit, was eigentlich gilt. Worauf kann ich mich noch verlassen? Es gibt keine sicheren Bilder, was wahr und wirklich ist und wo wir stehen. Man merkt das an den vielen Querdenkern und Verschwörungstheoretikern. Alle unsere Routinen, Alltagsmuster und unser Selbstverständnis verändern sich gerade grundlegend. Was uns sonst Halt gibt – Kontakt, Nähe – fällt jetzt weg. Verbundenheit heißt derzeit, sich eben nicht zu treffen, um den anderen zu schützen. Im virtuellen Raum, in dem wir derzeit hauptsächlich arbeiten, sind wir noch mehr auf uns selbst zurückgeworfen. Damit fehlt auch das Korrektiv der Gruppe. Obwohl das Management Veränderung vorantreibt, fehlen die Möglichkeiten für Co-Kreation und Zusammenarbeit. Bisher galt das Prinzip „Explore & Exploit“(Neues entdecken & Bestehendes ausschöpfen, Anm.) – aber gerade um etwas zu exploren, etwas auszuprobieren, zu testen und gemeinsam mit dem Kunden neu auszurichten, braucht es stabile Teams und intensive Zusammenarbeit. Das geht gerade nicht.
Was können Führungskräfte dagegen tun?
Wir hatten einen Klienten, dessen zweite Ebene „lost in space“war. Dort haben wir als Erstes halbstündige tägliche Teams-Gruppencalls eingeführt, bei denen jeder kurz sagt, was heute sein Fokus ist, was er mit den anderen teilen will und wo er Unterstützung braucht.
Also die drei klassischen Fragen agiler Morgenstehungen in den virtuellen Raum übertragen?
Die sind die Basis, aber diese Fragen fördern auch die Verbundenheit. Es gibt viele Möglichkeiten, mit kleinen Formaten Orientierung und Verbundenheit zu geben. Etwa einer digitalen Plattform, auf der alle Infos und Checklisten liegen. Oder täglichen „Nuggets“, Lernhäppchen zu aktuellen Themen: Wie führe ich virtuell? Wie leite ich ein digitales Meeting? Wie organisiere ich mich im Home-Office? Wie benutze ich die digitalen Tools? Wie stärke ich mich selbst? Es gibt „Communities of Practice“(CoP), in denen Leute mit ähnlichen Themen im virtuellen Raum zusammenkommen. Auch die Möglichkeit zu Einzelcoachings sollte es geben, wenn sich jemand in einem Bereich unsicher fühlt.
Was kann das Management tun, wenn die Mitarbeiter im HomeOffice zunehmend abdriften?
Das kann jetzt leicht passieren. Wir haben gerade eine virtuelle Konferenz für 120 Teilnehmer organisiert, in der der Bezug zum großen Ganzen wiederhergestellt und an den Purpose erinnert wurde. So etwas muss regelmäßig alle paar Monate geschehen. Und es muss wirklich gut vorbereitet sein.
Ist das denn so schwierig? Hierarchie bedeutete bisher, wer oben sitzt, hat die Wahrheit gepachtet. Die gibt es jetzt nicht. Das Management kann jetzt nicht behaupten „So ist es“oder „Wir wissen, wo es langgeht“. Das wäre eine Provokation. Keiner von uns hat je eine Pandemie erlebt. Wir können nicht wissen, was richtig ist. Aber wir können dazulernen und dann sagen: „Das verstehen wir jetzt besser, deshalb entscheiden wir jetzt so.“
Sie haben vorhin die Phasen der Pandemie aufgezählt, die wir bereits durchlaufen haben. Wie geht es denn weiter?
Irgendwann ist die Pandemie zu Ende. Das ist eine Entscheidung. Wenn genügend faktische Indikatoren dafür vorliegen, muss jemand die Pandemie für beendet erklären. So wie eine Krise eingeläutet werden muss, muss sie auch wieder ausgeläutet werden. Und dann bauen wir wieder auf.