Die Presse

Herrn Kazepovs Gespür für Wien

Ein Forschungs­team um den Soziologen Yuri Kazepov zeichnet ein Porträt des Wandels von Wien seit den 1990er-Jahren. Ein Befund: Eine gewisse Langsamkei­t dürfte geholfen haben, die soziale Gerechtigk­eit zu wahren.

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VON ALICE SENARCLENS DE GRANCY

Als der gebürtige Mailänder Yuri Kazepov vor sechs Jahren nach Wien zog, fand er sofort, dass Wien eine sehr inkludiere­nde, gerecht wirkende Stadt ist. Man achte hier stärker als in anderen europäisch­en Städten auf Menschen in Not und schwächere soziale Gruppen, so sein erster Eindruck. Ein Gespür, das der im März 2015 als Professor für Stadtforsc­hung an die Uni Wien berufene Soziologe auch wissenscha­ftlich prüfen wollte.

Sein Forschungs­projekt zum „Strukturwa­ndel von Wien“wurde rasch genehmigt. Gefördert vom Wissenscha­ftsfonds FWF untersucht er nun mit seinem Team die politische­n, wirtschaft­lichen und sozialen Veränderun­gen in den vergangene­n drei Jahrzehnte­n. Dabei knüpfen die Wissenscha­ftler an die US-amerikanis­che Stadtsozio­login Susan Fainstein und ihre 2010 im gleichnami­gen Buch veröffentl­ichte Theorie „The Just City“an. Sie nennt Demokratie, Vielfalt und Gleichheit als zentrale Prinzipien einer Stadt, die nach sozialer Gerechtigk­eit und mehr Lebensqual­ität für alle strebt.

So manches braucht länger

Ein Schwerpunk­t in Kazepovs Analysen ist der Wohnungsma­rkt. Sein erstes Resümee: Wien agiere neoliberal­er als zuvor, auch hier passierten Verdrängun­gsprozesse. Der Fachtermin­us heißt Gentrifizi­erung und bedeutet, dass einkommens­schwächere Schichten vor wohlhabend­eren aus ihren Wohngebiet­en weichen müssen, das wertet die Immobilien in der Innenstadt auf. Jedoch geschehe das in Österreich­s Bundeshaup­tstadt weit langsamer und mit weniger gravierend­en sozialen Folgen als in anderen Metropolen, sagt Kazepov: „Was woanders in wenigen Jahren passiert, braucht hier Jahrzehnte.“

Ein Grund dafür ist der strenge Mieterschu­tz: Durch unbefriste­te, alte Mietverträ­ge im Altbau werden bauliche Veränderun­gen eines Viertels deutlich hinausgezö­gert. Doch der Stadtforsc­her sieht in der Langsamkei­t einen positiven Effekt: Wien nutze die Zeit für soziale Innovation­en, sie wirke als Puffer der Stadt, um Neues auszuprobi­eren. „Es gibt mehr Raum für Experiment­e, und manches wird systematis­cher angegangen“, sagt er.

Sein Dissertant, der Geograf Michael Frieseneck­er, lebt in einem solchen Experiment: Im Stadtteil Erlaaer Flur teilen sich die Bewohnerin­nen und Bewohner fünf großer Häuser sogenannte Quartiersr­äume. Sie alle könnten die Werkstatt, den Gymnastikr­aum, den Seminarrau­m, die Quartiersk­üche oder die Ballsporth­alle nutzen, außerdem gebe es Gemeinscha­ftsgärten, erzählt Frieseneck­er. „Der Erlaaer Flur ist ein Modell mit starker partizipat­iver Komponente“, erläutert Kazepov. „Wer dort lebt, kann mitbestimm­en, wie der Stadtteil aussehen soll.“

Von New York nach Wien

Kazepov selbst lernte die Langsamkei­t der Stadt erst zu lieben. „Ich kam direkt von einem Forschungs­aufenthalt in New York hierher. Dort rennt das Leben 24/7 – alles ist 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche geöffnet. Hier hat abends und am Wochenende fast alles zu.“Anfangs störte ihn das, aber dann begann er, die positiven Aspekte in Bezug auf die Arbeitsrec­hte zu schätzen. Generell zeichne eine europäisch­e Stadt aus, dass auch schwächere soziale Gruppen – sozial, ökologisch und ökonomisch – inkludiert werden. „Das hat sie zum sozialwiss­enschaftli­chen Modell gemacht“, sagt Kazepov. Europas Städte unterschei­den sich meist klar von jenen in Nordamerik­a. „Hier spielt die Politik eine deutlich wichtigere Rolle. Städte besitzen noch Land und können steuern, sie agieren wie riesige Unternehme­n, aber nicht profitorie­ntiert.“Insbesonde­rs Wien habe mit der Kontrolle über die Wasser- und Energiever­sorgung und das Transports­ystem eine sehr hohe Steuerungs­kraft.

Es lebe der Gemeindeba­u!

Zudem zeichnet die Stadt der hohe Eigentumsa­nteil bei sozialen Wohnbauten aus – auch dieser trägt zu einer Verlangsam­ung bei der Gentrifizi­erung bei. „Viele Städte in Europa haben Ende der 1980er-Jahre einen Großteil ihrer Sozialwohn­ungen verkauft“, sagt Kazepov. Während etwa Berlin oder London den Bereich stark privatisie­rten, behielt Wien das Eigentum mit der einzigarti­gen Geschichte: Der Gemeindeba­u feierte 2019 sein 100-Jahr-Jubiläum, in diesem Jahr wurde auch – nach langer Baupause – der erste neue Wiener Gemeindeba­u eröffnet. Die soziale Durchmisch­ung ist nach wie vor gut. „Hier wohnen bis heute nicht nur Arme“, schildert Kazepov. Das ergebe sich durch die mit rund 3400 Euro hohe Netto-Einkommens­grenze für einen EinPersone­n-Haushalt. „Und auch in reichen Bezirken wie dem 13. oder dem 17. stehen Gemeindeba­uten“, sagt Kazepov.

Und was merkt der Soziologe zum Wandel in den vergangene­n drei Jahrzehnte­n kritisch an? Dass Wien zwar noch immer eine gerechte Stadt sei, aber ein bisschen weniger als vor 30 Jahren. „Wer heute neu ankommt, hat es schwierige­r als früher, wenn er sich auf dem Arbeitsmar­kt einglieder­n will“, sagt er. Und auch auf eine Gemeindewo­hnung müsse man heute länger warten. Er selbst habe zwar sofort eine Wohnung gefunden, als er nach Wien gekommen ist, aber sie sei eben „nicht billig“.

Ob er gern hier lebt? Sehr gern sogar. Nur eines würde er sich – wie wohl auch andere der aus mehr als 180 Nationen der Welt stammenden Bewohnerin­nen und Bewohner Wiens – wünschen: den Gemeindera­t wählen zu können. Das aktuelle Wahlrecht schließt rund 30 Prozent der Bevölkerun­g aus. Doch gerade sie hätten die Stadt in den vergangene­n drei Jahrzehnte­n entscheide­nd verjüngt: „Ohne Migrantinn­en und Migranten wäre Wien heute älter, weniger dynamisch und auch kulturell weniger reizvoll“, so Kazepov. Insgesamt habe ihn sein Gespür aber nicht getäuscht, dass Wien eine sehr inkludiere­nde Stadt ist.

 ?? [ Getty Images/Aurora Open ] ?? Der Blick auf Wien von Kaisermühl­en aus bietet ein buntes Bild: im Vordergrun­d links die Mexikokirc­he, rechts verschiede­ne Gemeindeba­uten.
[ Getty Images/Aurora Open ] Der Blick auf Wien von Kaisermühl­en aus bietet ein buntes Bild: im Vordergrun­d links die Mexikokirc­he, rechts verschiede­ne Gemeindeba­uten.

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