Tahiti statt Tatra
Der Pilot und Astronom Milan Stefˇ´an´ık hat sich die Aufgabe gestellt, seine slowakischen Landsleute in Tahiti anzusiedeln. „Tahiti Utopia“: Michal Hvoreckys´ Dystopie über slowakische Zustände.
Exodus in die Exotik: Michal Hvoreckys´ Roman „Tahiti Utopia“ist eine Dystopie über slowakische Zustände. Rezensiert von Thomas Rothschild.
Der Roman beginnt einigermaßen irritierend mit einem knappen Ursprungsmythos, wie man ihn aus diversen Religionen kennt. Dann springt er in das Jahr 1923. Ein wagemutiger Pilot und Astronom namens Milan Stefˇan´´ık, der, wie der bald darauf erwähnte tschechische Journalist Ferdinand Peroutka, tatsächlich existierte und eine Rolle bei der Gründung der Tschechoslowakei im Jahr 1918 spielte, hat sich die Aufgabe gestellt, seine slowakischen Landsleute in Tahiti anzusiedeln. Ein Hauch von Jules Verne weht durch diesen Einstieg in den jüngsten Roman des in Bratislava lebenden Michal Hvorecky.´
Ein Kapitel weiter befinden wir uns im Jahr 2020, vom Zeitpunkt des Erscheinens der slowakischen Originalausgabe 2019 aus gesehen in der unmittelbaren Zukunft. Vor dem tahitianischen Haus der Ich-Erzählerin, einer Historikerin, veranstaltet eine paramilitärische Organisation slowakischer Nationalisten eine Bücherverbrennung. Verbrannt wird ein Buch, das wie der vorliegende Roman „Tahiti“im Titel trägt. Er handelt von Stefˇan´´ık, dem Urgroßvater der Erzählerin, wie wir jetzt erfahren, von den Voraussetzungen und den Folgen seines bevölkerungspolitischen Experiments. Er handelt von den Slowaken auf Tahiti, das mit dem realen Tahiti so viel zu tun hat wie Shakespeares Böhmen mit Tschechien oder eben Jules Vernes Hoste mit der Insel dieses Namens. Südseeinseln haben nun einmal das Potenzial für Träume – für die sentimentalen des Schlagers, aber auch eines Gauguin und für die erschreckenden eines Jules Verne oder eines Michal Hvorecky.´
In dieses Kapitel eingebettet ist eine Deklaration von Hvoreckys´ Methode: „Bei der Handlung ging ich von historischen Tatsachen aus und nutzte bekannte literarische Motive: Was wäre wenn und etwas ist anders. Um mich im Genre der kontrafaktischen Geschichte zu bewegen, stützte ich mich auf zahlreiche erhaltene Dokumente. Ich hielt mich an die Fakten, hatte aber auch keine Angst, mir etwas auszudenken und reale Ereignisse umzugestalten.“
Nach diesen Prinzipien entwirft Hvorecky´ ein detailfreudiges Gemälde der Pariser Friedenskonferenz nach dem Ersten Weltkrieg. Er lässt Clemenceau und Wilson, Benesˇ und Horthy auftreten. Über die Figur Stefˇan´´ıks gewinnt das, was in üblichen Geschichtsdarstellungen abstrakt bleibt, eine hohe Plastizität und menschliche Dimensionen. Männer (und auch Frauen) machen zwar nicht die Geschichte, wie Heinrich von Treitschke behauptet hat, aber sie sind an ihr beteiligt, und es ist das Verdienst der
Belletristik, diese Beteiligung nachvollziehbar zu machen.
Hvoreckys´ Erzählerin charakterisiert ihre Recherchen so: „Besonderes Augenmerk legte ich auf die Schicksale von Frauen, die in der Geschichtsschreibung bisher nicht als wesentliche Akteurinnen angesehen worden waren, ihre Leben wurden ausgelassen oder verschwiegen.“Das klingt wie ein Zugeständnis an den Zeitgeist. Oder soll es eine Lüge sein? Das Versprechen wird jedenfalls nicht eingelöst. Frauen kommen im Roman sehr viel seltener vor als Männer, und ihre Rolle in der Geschichte dürfte, auch deren Vernachlässigung, für heutige Leser außerhalb der Slowakei weniger überraschend sein als die Geschichte der Slowaken im 20. Jahrhundert. „Die meisten Journalisten hatten keine Ahnung, dass es die Slowaken überhaupt gab, sie verwechselten sie mit Slowenen oder kannten das fragliche Gebiet lediglich unter den Bezeichnungen Felvidek,´ Oberungarn oder Oberland.“
Hvorecky´ schildert die Unzufriedenheit der Slowaken mit dem Ergebnis der Friedensverhandlungen von Saint-Germain. Sie entlud sich in Wut auf die Tschechen, die Ungarn, die Juden und die Westalliierten.
Die Folgen einer aggressiven Magyarisierung weisen voraus auf aktuelle Tendenzen in Orbans´ Ungarn. Über seinen Sprecher Stefˇan´´ık rekapituliert Hvorecky´ Genozide und Massaker der Vergangenheit, von der Ausrottung der Armenier durch das Osmanische Reich über die Vertreibung der Italiener aus Anatolien bis zur Flucht von hunderttausend Bulgaren aus Thrakien. Hvorecky´ teilt ganz offensichtlich die Enttäuschung seines Helden über die ausbleibende Reaktion der Weltöffentlichkeit und fördert damit bei aller Kritik auch Verständnis für den slowakischen Nationalismus. „Die Slowaken hatten noch niemals ihr Schicksal in den eigenen Händen gehabt. Nun war die Zeit gekommen, das zu ändern. Endlich ein eigenes Territorium zu bekommen und höchstwahrscheinlich auch einen Staat.“
Hier changiert die faktische Geschichtsschreibung zur Fiktion. Der historische Stefˇa-´ n´ık ist im April 1919 gestorben. Im Roman kommt er 1923 bei einem Flugzeugabsturz in Tahiti ums Leben. Hvoreckys´ Fantasie kann an die Tatsache anknüpfen, dass Stefˇan´´ık vor dem Zweiten Weltkrieg im Auftrag Frankreichs in wissenschaftlicher und vielleicht auch politischer Mission vorübergehend in Tahiti gelebt hat. Auch hier spickt Hvorecky´ seine Story mit historischen Figuren.
Die Ankunft der ausgewanderten Slowaken auf Tahiti erinnert an die literarische Tradition der Robinsonaden oder, wie schon erwähnt, an Jules Verne. 1925, knapp 50 Seiten vor dem Ende des Romans, entstehen dann die schon zu Beginn eingeführte paramilitärische Slowakische Landwehr und „eine radikale Jugendorganisation, die sich die Erziehung der Jugend im nationalen und katholischen Geist zum Ziel setzte“.
Dann, ziemlich unvermittelt, folgt ein Kapitel über die andere Wirklichkeit Tahitis, die Insel, auf der die Franzosen ihre Kernwaffenversuche durchführten. Als deren Folge sind ein großer Teil der Verwandten und Mitschüler der wie Hvorecky´ 1976 geborenen Erzählerin vorzeitig verstorben.
Der Reiz von „Tahiti Utopia“liegt einerseits in seiner verschachtelten Struktur, die zum Teil den Charakter eines Rätsels annimmt, andererseits in der unaufdringlichen Vermittlung historischer Fakten und Zusammenhänge. Bei einem der zugrunde liegenden Motive, das die Mitte wie eine Klammer umschließt, beim Motiv des neuen Nationalismus – als Kehrseite von Verfolgung und Diskriminierung? –, könnte man sich eine Vertiefung wünschen. Es verlangt geradezu nach einer Verallgemeinerung über die „slowakische Frage“hinaus. Man denke an die Russlanddeutschen oder an die Grauen Wölfe.
Der Sprachstil wirkt unauffällig, aber ob sich das dem slowakischen Text oder der Übersetzung von Mirko Kraetsch schuldet, der mit einer Ausnahme auch die übrigen Romane Hvoreckys´ übertragen hat, lässt sich ohne Kenntnis des Originals nicht entscheiden. Soll es wirklich lauten „Es war brüllend heiß“oder „Am Morgen hatte er zu tun gehabt, seine Gliedmaßen zu recken“?