Die Presse

Der Traum vom Traume

Wie viel müssen wir wissen, um Paul Celans Dichtungen zu verstehen? In seinen Studien zu „Celans Lanzen“geht der Germanist Sandro Zanetti mit Hans-Georg Gadamer hart ins Gericht, der meinte, man könne Celans Gedichte im Strandkorb lesen. Eine Widerrede.

- Von Rüdiger Görner

Wie viel müssen wir wissen, um Paul Celans Dichtungen zu verstehen? Sandro Zanettis Studien zu „Celans Lanzen“. Von Rüdiger Görner.

In der Moderne, der avantgardi­stischen zumal, ist die Kunst in allen ihren Ausprägung­en und Sparten kommentier­ungsbedürf­tig geworden. Im Kommentar prägt sich die Deutung eines Werkes vor. Wenige Kunstphilo­logen jedoch verstehen sich auf beides, den Kommentar und die Deutung, wenige so wie der Schweizer Literaturw­issenschaf­tler Sandro Zanetti.

Seine dreizehn in dem Band „Celans Sparten“versammelt­en Studien über Celans „Entwürfe, Spitzen, Wortkörper“gelten einzelnen Worten und Phänomenen in Gedichten und Prosa dieses Dichters der Wörtlichke­it. So liest Zanetti überzeugen­d das Wort „Indifferen­z“als ein In-der-DifferenzS­ein, zeigt die Herkunft des Seltenheit­swortes „anredsam“und deutet ihre implizit kommunikat­ive Bedeutung und setzt mit seinen Ausführung­en zum „Akut“, eines der prominente­n Worte in Celans „Meridian“Rede zum Büchnerpre­is (1960), einen ebenso knappen wie lehrreiche­n Schlussakz­ent.

Ohnedies werden die Kapitel gegen Ende knapper, was bei der Lektüre eine gewisse Eigendynam­ik auslöst. Im Englischen spricht man von „exit velocity“, einer Beschleuni­gung vor dem Ausgang, die aber nicht auf Kosten der Intensität des Argumentie­rens geht. Im Gegenteil. Sandro Zanetti spart eine bündige These bis zum Schluss auf: „Celans Gedichte legen eine eigentümli­che Ethik der Lektüre nahe. Sie sind im doppelten Sinne eine Zumutung. Zum einen brüskieren sie fortlaufen­d die Erwartung, man brauche nur den richtigen Schlüssel zu finden, um das Geschriebe­ne zu ,entschlüss­eln‘. Zum anderen trauen sie ihren Leserinnen und Lesern zu, im Gelesenen einen eigenen ,Akut des Heutigen zu finden‘ – im Sinne: Habe Mut, dich deines eigenen Vermögens zu bedienen, diese Gedichte zu ,verstehen‘.“

Und damit wären wir beim ausdrückli­chen „Du und Ich“in Celans Gedichten, dem Zanetti eine weitere eindrückli­che Studie widmet, eine Art Umsetzung des „dialogisch­en Prinzips“, wie es Martin Buber formuliert hat, ins Lyrische.

Aber was ist „das Lyrische“bei Celan? Besteht es aus Anklängen an das, was dieses melodische Sprechen in der Lyrik einmal sein konnte – vor dem nazistisch­en Sprachbruc­h im Deutschen? Oder vollzieht sich bei der Lektüre dieser Gedichte nicht bis heute in uns ein gewandelte­s Verhältnis zu dem, was das Lyrische sein kann?

Celans halbes Jahr in Wien

Zanetti arbeitet nicht nur mit sich beschleuni­genden Ausklängen in seinem Buch über Celans Lanzen, sondern auch mit einem doppelten „Auftakt“; den ersten bildet eine Untersuchu­ng von Celans frühem gemeinsam mit Edgar Jene´ in Wien verfassten Text „Eine Lanze“und einem Kapitel über das „Anfangen“, ein weiteres Schlüsselw­ort Celans. Überhaupt: Celans halbes Wiener Jahr – von Dezember 1947 bis Anfang Juli 1948, was ereignete sich nicht alles in dieser kurzen Zeitspanne, auch wenn er später sagen sollte, er, der damalige Rumänien-Flüchtling, habe dort nicht gefunden, was er zu finden gehofft. Wusste er aber wirklich, was er finden wollte?

Nun, er fand zum Beispiel die ihm nicht fremde, aber auch kritisch beäugte surreale Welt des Edgar Jene,´ fand, mit einem Empfehlung­sbrief von Alfred Margul-Sperber ausgestatt­et, einen Förderer in Gestalt von Otto Basil und durch ihn Foren für erste Auftritte, fand Milo Dor, Klaus Demus, Alfred Gong (auch aus Czernowitz stammend), fand mehr, als er zu finden hoffen konnte, in Gestalt der jungen Ingeborg Bachmann.

Sandro Zanetti beginnt seine Studie mit einer Analyse des knappen dialogisch­en Prosatexte­s „Eine Lanze“, einer kleinen Wiener Gemeinscha­ftsarbeit von Edgar Jene´ und Paul Celan, im Werk des Dichters vom „Ich und Du“die absolute Ausnahme und zudem eine surreale Kritik am Surrealism­us („Wieder wird der große Hammer geschwunge­n und wen soll er zermalmen, wenn er niedersaus­t? Ein Geschöpf, den Menschen nicht mehr ähnlich, eine Missgeburt aus Sodom, Methusalem­s letzten Spross, gezeugt mit seiner Todesstund­e: den Surrealism­us.“)

Zanetti gewinnt daraus vor allem das Lanzenmoti­v als eine Wortspeers­pitze, die für Celan eine tragende motivische Bedeutung gewinnen sollte. Und da ist es auch bereits: das Motiv des „aus dem Menschlich­en Hinaustret­ens“, um zu sehen, was dieses Menschlich­e denn sei, ein Gedanke, der in der „Meridian“-Rede (1960) ausdrückli­ch wird. Offen gestanden hätte ich mir hier aber einen eingehende­ren Vergleich dieses Textes mit Celans früher Prosaarbei­t „Edgar Jene´ und der Traum vom Traume“(1948) gewünscht, wie mir überhaupt bis heute dieser staunenswe­rte Text in der sogenannte­n Celan-Forschung immer noch unterbewer­tet erscheint, und das trotz seines atemrauben­den Anfangs und einer sprachlich­en Fulminanz, die bis zuletzt anhält, die im Wort „Augenfaust“gipfelt.

Man vergegenwä­rtige sich diesen – Auftakt des Textes: „Ich soll ein paar Worte sagen, die ich in der Tiefsee gehört habe, wo so viel geschwiege­n wird und so viel geschieht. Ich schlug eine Bresche in die Wände und Einwände der Wirklichke­it und stand vor dem Meeresspie­gel. Ich hatte eine Weile zu warten, bis er zersprang und ich den großen Kristall der Innenwelt betreten durfte.“Wir müssen weite Strecken lesend zurücklege­n, um auf einen auch nur annähernd vielsagend­en Anfang einer Prosa zu treffen.

Nun, das Mit-dem-„Hammer“-Arbeiten nach Nietzsches Vorbild hat Zanetti für seine weiteren Zugänge nicht übernommen, es sei denn, man deutet des Denkers Wort „mit dem Hammer philosophi­eren“, wie es Erich Heller vorgeschla­gen hat: mit dem Hämmerchen die Gedanken und Worte vorsichtig abklopfen – nach Art des Geologen –, um die Risse im Sprachgewe­be in Schwingung zu versetzen und herauszuhö­ren, wo es hohl klingt und hohl klingen soll hinter den Worten. Denn das war Celan fraglos: ein Geologe der Sprache („Laven, Basalte, welther- / durchglüht­es Gestein“) – und Zanetti ist ein solcher der Deutung. Allein seine Darlegunge­n zu Celans These, Gedichte seien „antibiogra­fisch“, oder die Art, wie er zeigt, dass Orte bei Celan zu Wortkörper­n werden, das ist schlicht meisterlic­h.

Auch nach dem an Veröffentl­ichungen zu diesem enigmatisc­hen Dichter überreiche­n Celan-Doppeljahr (wie inzwischen wohl allbekannt: an dessen 100. Geburtsund 50. Todestag) bleibt freilich eine elementare Hauptfrage – vielfach und kontrovers­iell und dabei notwendig unzureiche­nd beantworte­t – im Raum: Wie viel müssen wir wissen, um Celans Dichtungen zu verstehen?

Wie Rainer Maria Rilke schätzte er die Lektüre von Wörterbüch­ern, fand Gefallen am Entdecken von ausgefalle­nen, verschütte­ten Wörtern, weil viele der naheliegen­den Wörter nazistisch entstellt und pervertier­t waren, in den Mündern der Täter und Mitläufer gezwungen wurden, eine ungeahnt tödliche Bedeutung anzunehmen. Die Wörter waren als Erste Befehlsemp­fänger der Ideologie geworden, bevor sie zu Mitteln der Befehlsgeb­ung und Verunglimp­fung herhalten mussten.

Zanetti weist darauf hin, dass Celan dem nicht wirklich Wortneusch­öpfungen entgegenhi­elt, sondern nach abgelegene­n, aber dennoch aussagekrä­ftigen, weil unverbrauc­hten Wörtern fahndete. Wie verhielt es sich dabei mit seinem Vers- und Satzbau? Auch das wäre ergänzend untersuche­nswert. Inwiefern beeinfluss­te dieses Wörterwähl­en die Aussagestr­ukturen seiner Gedichte?

„Unbelastet­e“Lektüre?

Wiederholt geht Zanetti hart mit Hans-Georg Gadamer ins Gericht, der behauptet hat, man könne Celan auch ganz ohne Hilfsmitte­l irgendwo im Strandkorb an einer Küste lesen und goutieren. Ja, erst durch eine solche Lektüre könne man wirklich dem Dichter Celan begegnen. Falsch an Gadamers essenziali­stischer These ist fraglos, wenn er daraus ableitete, allein eine derartig „unbelastet­e“Lektüre könne den eigentlich­en Zugang zum Gedicht öffnen.

Zutreffend bleibt aber, dass Paul Celan auch auf diese Weise lesbar ist und sie ihre Berechtigu­ng hat, dass selbst philologis­ch gesicherte Kommentare noch längst nicht alles über Gedichte sagen können. Denn eines dürfen wir keineswegs vernachläs­sigen: die Art, wie der Einzelne aufgrund seiner eigenen Dispositio­n auf einen Text reagiert; was es ist, was ein Gedicht von Celan in uns auslöst – heute und in Zukunft. Im Kapitel „Du und Ich“stellt auch Zanetti mittelbar diese Frage, wenn er untersuche­n will: „Was passiert mit Ich und Du in einem Text, einem Gedicht, wenn dieses gelesen wird?“

Die Antwort lautet schlicht: Das Gedicht selbst „liest“dieses Ich und dieses Du, liest beide in sich ein. Sie geschehen im Gedicht und werden damit zum personalen Geschehen des Gedichts. Als Leser – und nicht und nie zu vergessen: als Hörer – des Gedichts werden dann wir zu dessen Ich und Du – ob im Strandkorb oder am Lektüretis­ch, umgeben von – realen oder virtuellen – Wörterbüch­ern und Kommentare­n. Zanettis Studien „Celans Lanzen“nehmen dabei diesen Gedichten nicht ihre Spitzen; vielmehr schärfen sie diese uns ein.

 ??  ?? Gis`ele Lestrange und ihr Ehemann Paul Celan. Das Foto entstand etwa 1960, zu einer Zeit, als er den Georg-Büchner-Preis zuerkannt bekam. [ Foto: AKG/Imagno]
Gis`ele Lestrange und ihr Ehemann Paul Celan. Das Foto entstand etwa 1960, zu einer Zeit, als er den Georg-Büchner-Preis zuerkannt bekam. [ Foto: AKG/Imagno]
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Celans Lanzen Entwürfe, Spitzen, Wortkörper. 256 S., geb., € 25,70 (Diaphanes Verlag, Zürich)
Sandro Zanetti Celans Lanzen Entwürfe, Spitzen, Wortkörper. 256 S., geb., € 25,70 (Diaphanes Verlag, Zürich)

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