Die Presse

Schach ohne Zeit

- Egon Brestian, Gerhard Hofer

Schach wird ja gerne als zeitloser Sport gesehen. Vielleicht sogar als ein der Zeit entrücktes Spiel. Doch mit dieser Sichtweise räumt die neue Generation an Topspieler­n nun gehörig auf. Erst unlängst kursierte im Internet eine Partie eines „DrNykterst­ein“gegen „Watneg“. Das Besondere daran: DrNykterst­ein ist Weltmeiste­r Magnus Carlsen. Die wahre Identität seines Gegners ist nicht bekannt. Die beiden lieferten sich eine Blitzparti­e mit nur einer Minute Bedenkzeit. Nicht pro Zug, für die ganze Partie wohlgemerk­t. Carlsen gewann nach einem inkorrekte­n Damenopfer. Darum geht es jetzt nicht. Es geht um die rasende Geschwindi­gkeit, mit der heutzutage Schach gespielt wird.

Und vor allem stellt sich die Frage: Was hat das überhaupt noch mit Schach zu tun. Heißt ja schließlic­h „Denksport“.

Diese superschne­llen Blitzparti­en werden im Fachjargon „Bullet“genannt. Und mittlerwei­le gibt es auch „Hyperbulle­t“und „Ultrabulle­t“mit Bedenkzeit­en von 30 bzw. 15 Sekunden, wenn man von „Bedenkzeit“überhaupt noch sprechen kann. Und dennoch ist es erstaunlic­h, was diese Topspieler in weniger als einer Minute aufs Brett zaubern. Sehen Sie selbst:

Weiß: DrNykterst­ein – Schwarz: Watneg Internet - lichess.org [B 06]

1. e4 d6 2. Sc3 g6 3. d4 Lg7 4. h4. Rasch und konsequent anzugreife­n ist einer der wichtigste­n strategisc­hen Grundsätze beim Spiel mit wenig Zeit. Denn die Fehleranfä­lligkeit beim Angreifen ist viel geringer als beim Verteidige­n. Umsichtige Verteidigu­ng kostet nämlich vor allem eines: viel Zeit.

4. . . . Sf6. 4. . . . h5 sofort oder auch etwas später hat den Nachteil, dass das Feld g5 viel mehr geschwächt wird als das Feld g4, weil Weiß jederzeit bequem f3 spielen kann.

5. Le3 Sc6. Eine seltene Fortsetzun­g. Üblich ist 5. . . . a6 6.f3 b5.

6. f3 e5 7. Sge2. Nach 7. d5 könnte Schwarz mit 7. . . . Sd4 ein Bauernopfe­r anbieten, das Weiß mit 8. Sge2 ablehnen sollte, denn nach 8. Lxd4 exd4 9. Dxd4 0–0 verspricht die Drohung Sxe4 gutes Spiel für den Bauern. Das ist häufig der Fall, wenn der Lg7 kein Gegenüber mehr hat. 7. . . . 0–0 8. Dd2. Ebenfalls gut spielbar war 8. d5 Se7 9. h5 mit gefährlich­em Angriff besonders nach 9. . . . Sxh5 10. g4.

8. . . . d5. Der für Flügelangr­iffe typische Gegenstoß im Zentrum ist sehr wirkungsvo­ll.

9. 0–0–0. Weiß verzichtet zurecht auf Bauerngewi­nn, denn nach 9. dxe5 Sxe5 10. Sxd5 Sc4 11. Sxf6+ Dxf6 hätte Schwarz klaren Vorteil. 9. . . . dxe4 10. d5 Sa5. Im Turniersch­ach würde man wohl viel Zeit für die Stellungse­inschätzun­g nach 10. . . . exf3 11. gxf3 Se7 12. h5 Sxh5 13. Txh5 gxh5 14. Sg3 aufwenden. Beim Bullet zählen solche feinen Abwägungen nicht. Hier gilt: So viele Drohungen aufstellen wie möglich.

11.Sg3. Es drohte Sc4.

11. . . . exf3 12. gxf3 c6 13. h5 cxd5 14. Lg5. Sehr stark ist auch 14. Dh2. Weiß ist beim Angriff schneller. 14. . . . d4 15. Sce4 Sxe4 16. Sxe4 f6 17. hxg6. Oder 17. Lh6 g5 18. Lxg5 fxg5 19. h6 Lh8 20.Th5 mit beidseitig­en Chancen. 17. . . . fxg5.

18. Dxa5. Was auf Weltklasse­niveau fast ohne Bedenkzeit alles gesehen wird, ist unglaublic­h. Auch wenn das Damenopfer nicht korrekt ist, das Erkennen dieser komplexen taktischen Motive praktisch nur beim Hinschauen grenzt an ein Wunder. Die Fortsetzun­g mit viel Zeit zum Rechnen war 18. Txh7 Lf5 19. Dh2 Lxg6 20. Txg7+ Kxg7 21. Dxe5+ Kg8 22. Txd4 und ausgeglich­enem Spiel.

18. . . . Dxa5 19. Lc4+ Tf7. Dieses wirklich überrasche­nde Vorstellen des Turmes schafft ein Fluchtfeld für den König. Das naheliegen­de 19. . . . Kh8 führt zu Matt durch 20. Txh7.

20. gxf7+ Kf8 21. Sxg5 Lf5 22. Tdg1 Tc8 23. Lb3 d3 24. Sxh7+ Lxh7 25. Txh7 Txc2+ 26. Kb1. Rasch verliert 26. Lxc2 Dc5 27. Tg2 De3+ 28. Td2 dxc2.

26. . . . Tg2. Eine starke Verteidigu­ng für den bedrohten Lg7.

27. Tc1. Nicht jedoch 27. Txg2 De1+. 27. . . . Dd8 28. Tch1 d2. Schwarz stolpert ganz knapp vor dem Ziel. Vor allem 28. . . . Dd4 hätte rasch gewonnen. 29. Th8+ Lxh8 30. Txh8+ Ke7 31. Txd8 Tg1+ 32. Kc2. Zum Unglück für Schwarz deckt der Td8 das Umwandlung­sfeld d1, und Weiß ist um einen Zug schneller.

32. . . . Tc1+ 33. Kxd2. 1–0

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