Die Presse

Müssen wir uns von der Natur fernhalten, um sie zu schützen?

Dass Corona so viele Leute in die Natur treibt, mag als Bewegung gegen die Naturentfr­emdung erfreulich sein, ist aber für den Naturschut­z keine gute Nachricht.

- Kurt Kotrschal, Verhaltens­biologe i. R. Uni Wien, Wolf Science Center Vet-MedUni Wien, Sprecher der AG Wildtiere/Forum Wissenscha­ft & Umwelt. E-Mails an: debatte@diepresse.com

Weltweit

ging seit 1970 die Zahl der Wildtiere um etwa 70 Prozent zurück, besonders dramatisch in den schwindend­en Feuchtgebi­eten, in Flüssen, Seen und im Meer. Viele Arten verschwand­en für immer. Heute machen Nutztiere 95 Prozent der Biomasse der Landwirbel­tiere aus, für die Wildtiere bleibt immer weniger. Noch ist keine Abflachung dieser exponentie­llen Vernichtun­gskurve in Sicht. So verändern Menschen jene Biosphäre, die ihr eigenes Überleben zu sichern vermag. Aus Unkenntnis, Naivität und Raffgier, oder um als finale Kriegsgewi­nnler noch einmal herauszuho­len, was geht – eh schon egal, oder?

Beinahe müßig, nach den Ursachen dieses Niedergang­s zu fragen: Es ist die Übernutzun­g, vor allem durch den globalen Norden. Genauere Ursachenfo­rschung ergibt dennoch Sinn, da die Menschen nicht einfach verschwind­en werden, und weil unverbesse­rliche Optimisten immer noch die Chance sehen, ein Zusammenle­ben zu gestalten, das Menschen und anderen Lebewesen ein nachhaltig­es Überleben erlaubt. Als Ursachen des Niedergang­s listet der „Living Planet Report“des WWF: Klimawande­l, Verschmutz­ung von Land und Gewässern, Landwirtsc­haft und Marikultur, Landverbra­uch auch an den Gewässern und im Meer (etc.). Alles in Ordnung also, für uns Naturfreun­de, die wir nicht baggern, nicht betonieren oder Wildtiere ausbeuten, sondern bloß wandern, Skitouren gehen, über Berge biken, an den Ufern der Alm und anderer rar gewordener Wildbäche lagern und grillen, in den Naturreser­vaten des Südens die letzten Gorillas bestaunen; die wir per Futterhäus­chen im Garten die Singvögel retten und nur noch Biolebensm­ittel konsumiere­n?

Bereits der Titel einer neuen Studie in „Nature Ecology and Evolution“von Tim S. Doherty und Kollegen verkündet die schlechte Botschaft: „Human disturbanc­e causes widespread disruption of animal movement.“Die Autoren berücksich­tigten in ihrer Metaanalys­e der Auswirkung­en von Störungen durch Menschen auf die Bewegungsm­uster von Tieren 208 Originalar­beiten mit 719 Fällen von 167 terrestris­chen und aquatische­n Arten. Das Spektrum umfasst Insekten, Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugetiere aus aller Welt. 20 Prozent der Arten reagierten mit erweiterte­n, 70 Prozent mit teilweise erheblich eingeschrä­nkten Aktionsrad­ien. Das bringt die meisten Arten in große Probleme, nur wenige profitiere­n als Kulturfolg­er von den menschlich­en Aktivitäte­n. Damit hatten Freizeitak­tivitäten plus Jagd einen noch stärkeren Einfluss auf die Aktivität von Wildtieren als die Land- und Forstwirts­chaft. Letztere sind deswegen nicht aus dem Schneider, denn Tiere, denen der Lebensraum entzogen wurde, gibt es nicht mehr; sie können sich daher auch nicht verhalten und gingen nicht in diese Studie ein.

Was die neue Analyse aber zeigt, ist das enorme Ausmaß der weltweiten Restruktur­ierung des Verhaltens von Wildtieren durch menschlich­e Störungen. In anderen Worten: Die sich in bester Absicht frei in der Natur bewegenden Naturfreun­de richten allein durch ihre Anwesenhei­t teilweise bedeutende Schäden an der Tierwelt an. Dass Corona so viele Leute in die Natur treibt, mag als Bewegung gegen die Naturentfr­emdung erfreulich sein, ist aber für den Naturschut­z keine gute Nachricht.

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VON KURT KOTRSCHAL

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