Warum in Italien die Todesrate wieder steigt
Analyse. Während in anderen großen EU-Ländern die Zahlen der Coronatodesfälle dank Impfungen sinken, steigen sie in Italien seit März an. Grund ist ein Versäumnis in den ersten Wochen des Jahres, das nun seinen Tribut fordert.
Rom. Jeden Tag ein Flugzeugabsturz. Seit Monaten. Das ist die Coronasituation in Italien. Zwar ist der Vergleich der Coronatodesfälle mit einem Flugzeugunglück nicht neu, doch er hat nichts an seiner Schlagkraft eingebüßt. Sein Vorteil ist, dass er die täglich neuen Coronazahlen greifbar macht: Niemand würde sich daran gewöhnen, wenn jeden Tag ein Flugzeug aus dem Himmel fiele. Einfacher ist es, sich an die Zahl Dreihundertirgendwas zu gewöhnen – so viele Menschen sterben im Schnitt in Italien täglich am Virus.
Doch die Italiener haben sich an die Hiobsbotschaften gewöhnt. Der Fokus hat sich auf die Impfkampagne verschoben, die auch in Italien im (langsamen) EU-Tempo läuft. Doch spätestens seit Anfang April steckt in den neuen Coronazahlen Sprengstoff, der ausreichen würde, eine Regierung zu stürzen – wäre diese nicht gerade erst ausgewechselt worden. Die Zahlen zeigen, dass Italien im Vergleich zu den anderen großen Ländern Europas die meisten Todeszahlen zu beklagen hat. Mehr noch: Italien ist das einzige dieser Länder, dessen Todeszahlen seit März einem Aufwärtstrend folgen.
So starben laut einer Berechnung des italienischen Instituts für internationale Politik (ISPI) zwischen 1. März und 7. April jede Woche im Schnitt pro Million Einwohner 45 Menschen am Virus. Zum Vergleich: In Frankreich waren es 32, in Spanien 26, in Deutschland 16. Folgt man der Grafik der Todesfälle auf „Our World in Data“, zeigt sich ein deutlicher Impfeffekt: So fallen seit Mitte Februar in diesen drei Länder die Todeszahlen ab. Nur in Italien steigt die Kurve seit Anfang März wieder kontinuierlich an.
Datenexperte Matteo Villa vom ISPI hat dafür zwei Erklärungen: Einerseits macht er den vergleichsweise lockeren Lockdown rund um Weihnachten verantwortlich. Zu dieser These passt, dass auch Frankreich, das zeitweise ebenfalls einen losen Kurs fuhr, die zweitmeisten Todesfälle im März melden musste. Schwerer wiegt aber die zweite Erklärung, die Villa anführt: Er glaubt, dass die Italiener ihre Impfdosen seltener zum Schutz der über 80-Jährigen eingesetzt haben. Während Deutschland bis Mitte Februar 20 Prozent seiner über 80-Jährigen mindestens eine Dose des Impfstoffs verabreicht hatte, waren es in Italien nur sechs Prozent. Frankreich hatte zum gleichen Zeitpunkt 23 Prozent der über 80-Jährigen geimpft.
Falsche Prioritäten
Deutschland und Frankreich konzentrierten sich in den ersten sechs Wochen darauf, die über 80-Jährigen zu schützen – zum Nachteil der Mitarbeiter im Gesundheitssystem. In Italien lag die Priorität hingegen bei letzterer Gruppe, was anfangs auch dazu führte, dass Italien schnell impfte – die erforderliche Logistik, um Spitalangestellte zu impfen, ist eben einfacher. Laut Villa hätte Italien Tausende Menschenleben retten können, hätte sich das Land am deutschen und französischen Vorgehen orientiert: „Es hätte ausgereicht, das Gesundheitspersonal in zwei Monaten anstatt in einem zu impfen, und dann nur nach Altersgruppen weiterzumachen, um 12.000 Todesfälle statt 4000 zu vermeiden.“8000 Todesfälle hätten also verhindert werden können.
Noch etwas läuft schief in der Impfkampagne. Zwar gibt es Regionen, die schnell und effizient impfen, etwa Latium, wo derzeit bereits die 60-Jährigen Termine reservieren können. Doch in der Lombardei läuft das Anmeldesystem nicht und in Kalabrien erhielten mehr Menschen Impfungen, die zu keiner priorisierten Kategorie gehören, als über 80-Jährige. Hinzu kamen Debatten, ob Touristiker vor älteren Menschen geimpft werden sollten. Nun sprach Premier Mario Draghi ein Machtwort. Die Priorität müsse älteren Menschen eingeräumt werden. Für Versäumnisse zu Beginn der Impfkampagne ist er nicht verantwortlich. Er ist erst seit Februar Premier.