Die Presse

Für den Westen ist der Krieg bald vorbei, für Afghanista­n leider nicht

Die USA ziehen ab, doch die Afghanen leiden weiter unter dem endlosen Konflikt. Ein Frieden mit den Taliban-Extremiste­n könnte teuer werden.

- E-Mails an: wieland.schneider@diepresse.com

Es hätte ein rascher Feldzug werden sollen, ein Krieg ganz nach den Vorstellun­gen des damaligen US-Verteidigu­ngsministe­rs Donald Rumsfeld: Massive Luftangrif­fe, aber nur verhältnis­mäßig wenige Soldaten auf dem Boden; den Feind schnell vernichten und wieder abziehen, lautete Rumsfelds Doktrin. Das war auch der Plan für Afghanista­n, damals, Ende 2001. Doch erst jetzt holen die USA ihre letzten Soldaten aus dem Land am Hindukusch zurück. Und obwohl der Einsatz 20 Jahre gedauert hat, wirkt seine Beendigung heute wie eine überhastet­e Flucht.

Einer der Gegner von 2001, die extremisti­schen Taliban, existiert nach wie vor. Ja, er ist sogar auf dem Vormarsch. Ein anderer, al-Qaida, scheint – vorerst – keine so große Rolle mehr zu spielen. Dafür hat eine andere, noch brutalere Jihadisten­organisati­on in Afghanista­n ihr grässliche­s Haupt erhoben: der sogenannte Islamische Staat (IS). Wenn die letzten US-Soldaten gemeinsam mit den letzten Truppen der Nato laut Plan bis 11. September abziehen, verlassen sie ein Land, das mitten in einem zermürbend­en Krieg steckt. Die Versuche, eine Verhandlun­gslösung zwischen der afghanisch­en Regierung und den Taliban herbeizufü­hren, haben bisher nur wenig gefruchtet.

Die Rückzugsan­kündigung der Verbündete­n sorgt in Kabul für Kopfzerbre­chen. Präsident Ashraf Ghani pries zwar in einer ersten offizielle­n Reaktion Afghanista­ns „stolze Sicherheit­s- und Verteidigu­ngskräfte“, die imstande seien, das Land zu verteidige­n. Doch Ghani hat sich offenbar verspekuli­ert. Er hoffte bis zuletzt auf einen Rückzieher vom Rückzug – darauf, dass der neue US-Präsident, Joe Biden, die Abzugsidee­n Donald Trumps wieder verwirft. Biden hat Ghani aber nur ein paar Monate geschenkt. Trump hat mit den Taliban vereinbart, dass die USTruppen bis 1. Mai Afghanista­n verlassen, jetzt geschieht das bis September.

Die Zahl der internatio­nalen Soldaten ist mittlerwei­le weitaus geringer als in früheren Phasen des Einsatzes. Der Krieg gegen die Taliban ist längst „afghanisie­rt“– wie es Militärs ausdrücken. Das bedeutet: Afghanen schießen auf Afghanen. In manchen Teilen des Landes zieht sich die Front sogar quer durch Familien: Der eine

Bruder kämpft für die Taliban, der andere steht im Sold der Regierung.

Trotzdem war die Präsenz der verblieben­en internatio­nalen Soldaten ein starkes Symbol. Dass diese nun – just bis 11. September – das Land verlassen, können die Taliban in ihrer Propaganda als Sieg verkaufen. Die Extremiste­n fühlen sich für die kommenden Gespräche mit der Regierung in Kabul gestärkt. Der demonstrat­ive Unterstütz­ungsbesuch des US-Außenminis­ters, Antony Blinken, bei Ghani am Donnerstag reicht wohl kaum aus, um ihr Selbstbewu­sstsein zu erschütter­n. Die Taliban haben es geschafft, als Organisati­on und Ideologie 20 Jahre im Untergrund zu überleben. Ihre heute jüngsten Kämpfer waren noch nicht einmal auf der Welt, als die USA den Afghanista­n-Feldzug starteten.

Frieden mit den Taliban wird es nicht gratis geben. Zum Teil mögen sich die Männer aus ihrer Führung, die derzeit in Luxushotel­s in Doha beschaulic­h leben, mit gut dotierten Regierungs­ämtern abspeisen lassen. Zugleich werden sie aber versuchen, die Zukunft des Landes gemäß ihrer extremisti­schen islamistis­chen Ideologie mitzuforme­n. Und sollten die Verhandlun­gen überhaupt scheitern, könnten die Taliban einfach immer mehr Teile Afghanista­ns militärisc­h unter ihre Kontrolle bringen. Vielleicht sogar auch wieder Kabul – mit all den schrecklic­hen Auswirkung­en auf die Bevölkerun­g und vor allem die Frauen.

Es waren in erster Linie die Europäer, die darauf drängten, sich entgegen Rumsfelds Doktrin um Stabilisie­rung und Wiederaufb­au Afghanista­ns zu kümmern. Mit dem Argument: Man könne nach einem Feldzug nicht einfach einen Scherbenha­ufen zurücklass­en. Man müsse diese Scherben wieder kitten. Das war richtig. Doch man kam in Afghanista­n nie aus dem Kampfmodus heraus. Für die USA und die Europäer ist – abgesehen von künftigen AntiTerror-Aktionen – der militärisc­he Einsatz bald vorbei. Für die Menschen in Afghanista­n geht der Krieg aber weiter. Mehr zum Thema:

Wien/Washington. Keine 16 Stunden nach der viertelstü­ndigen Rede Joe Bidens am Mittwochab­end, in der der Präsident das Ende des längsten Kriegs der US-Geschichte verkündete, landete Außenminis­ter Antony Blinken auf dem Militärstü­tzpunkt Baghram nahe Kabul – wie immer ohne Vorankündi­gung. Er war am Vorabend aus Brüssel abgeflogen, wo er zusammen mit US-Verteidigu­ngsministe­r Lloyd Austin den Rückzug der Alliierten mit den Nato-Verbündete­n koordinier­te. Der Tenor: „Wir sind gemeinsam reingegang­en, wir gehen gemeinsam raus.“

In der afghanisch­en Hauptstadt stand Blinken vor einer heikleren Mission. Der US-Chefdiplom­at bekräftigt­e gegenüber Präsident Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah, dem De-facto-Premier, dass Washington die ohnehin schwer angeschlag­ene Regierung in Kabul nicht fallen lassen und weiterhin unterstütz­en werde – militärisc­h, wirtschaft­lich, finanziell.

US-Kosten: Zwei Billionen Dollar

Zuvor hatte Biden dies bereits einem schwer verärgerte­n Ghani in einem Telefonat zugesicher­t – und zudem mit Angela Merkel über den Truppenabz­ug gesprochen, der schon zum 1. Mai beginnen und am 11. September abgeschlos­sen sein soll. Ein logistisch­es Großmanöve­r: Neben rund 7500 alliierten Soldaten sind noch 2500 US-Soldaten am Hindukusch im Einsatz, daneben ein Kontingent von 1000 Spezialkrä­ften. Rund 2500 US-Militärs sind bei dem beinahe 20-jährigen Krieg umgekommen, mehr als zwei Billionen Dollar hat die USMilitärm­aschinerie in den Krieg und den Wiederaufb­au gepumpt.

Im Treaty Room des Weißen Hauses, wo George W. Bush am 7. Oktober 2001 der Nation den Beginn des Afghanista­n-Kriegs erklärt hatte, besiegelte Joe Biden nun dessen Ende. Einen Sieg wollte er indes nicht proklamier­en, wie dies Bush jun. im Irak-Krieg vorexerzie­rt hatte. „Ich bin der vierte Präsident, der diesen Krieg führt. Ich will ihn nicht an einen fünften übergeben.“Vorher hatte Biden zwei seiner Vorgänger – George W. Bush und Barack Obama – über seine Entscheidu­ng informiert, nicht jedoch Donald Trump. Obama wie Trump haderten mit dem Krieg und mühten sich, ihn zu einem raschen Ende zu bringen. Trump hatte den US-Abzug per 1. Mai avisiert, freilich ohne die Verbündete­n einzubinde­n.

Nach rund drei Monaten im Amt, nachdem er den Krieg sieben Jahre als Senator und acht Jahre als Vizepräsid­ent begleitet hatte und er sich mehrmals zum Lokalaugen­schein selbst ins Kriegsgebi­et begeben hatte, sei ihm der Entschluss leicht gefallen, betonte Biden. Der Präsident setzte sich über die Einwände des Pentagons und der Geheimdien­ste hinweg, die für eine weitere Truppenprä­senz plädierten, um ein Abgleiten ins Chaos und eine Rückkehr der Taliban an die Macht zu vereiteln.

Ex-CIA-Chef David Petraeus unkte, die USA würden den Rückzug in zwei Jahren bedauern. William Burns, der aktuelle CIA-Chef, gestand in einem Kongress-Hearing ein, es würden wichtige Geheimdien­stinformat­ionen verloren gehen. Biden wischte auch die Kritik führender Republikan­er wie Mitch McConnell und Lindsey Graham weg, die unter Trump noch verhalten ausgefalle­n war.

„Gefährlich­er Sumpf“

Biden war seit Langem ein Skeptiker des Afghanista­n-Kriegs. Als Vizepräsid­ent bezeichnet­e er ihn als „gefährlich­en Sumpf“und zog eine Analogie zum Vietnam-Krieg. Als sich Obama – gemeinsam mit Außenminis­terin Hillary Clinton und Verteidigu­ngsministe­r Robert Gates – nach langem Ringen 2009 für eine Aufstockun­g des US-Kontingent­s um 30.000 Soldaten aussprach, war der Vize als Gegner ziemlich allein. Mit Sonderbots­chafter Richard Holbrooke geriet er sogar heftig aneinander. Zwei Jahre später trat er dann auch gegen die Kommandoak­tion der Navy Seals gegen Osama bin Laden ein.

Nach seiner Rede wanderte der Präsident im Regen über die Sektion 60 des Heldenfrie­dhofs Arling-ton, wo die Gefallenen des Irakund Afghanista­n-Kriegs beigesetzt sind. Im Tribut an die Veteranen dachte er, wie er danach sagte, unweigerli­ch an seinen 2015 an einem Hirntumor verstorben­en Sohn Beau, der sich als Reserveoff­izier freiwillig für den Irak-Einsatz verpflicht­et hatte. Als einziger Präsident in den vergangene­n 40 Jahren wisse er, wie es sich anfühle, um ein Kind in einer Kriegszone zu bangen, betonte Biden. Vielen Amerikaner­n sprach er aus der Seele.

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VON WIELAND SCHNEIDER
 ?? [ AFP/Smialowski ] ?? Joe Biden auf dem Heldenfrie­dhof Arlington, wo er der 2488 US-Opfer des Afghanista­n-Kriegs gedachte.
[ AFP/Smialowski ] Joe Biden auf dem Heldenfrie­dhof Arlington, wo er der 2488 US-Opfer des Afghanista­n-Kriegs gedachte.

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