Die Presse

Staatsschu­lden wie nach einem Weltkrieg

Krise. Noch nie seit Beginn der Industrial­isierung waren die Staatsschu­lden der Industriel­änder so hoch wie heute. Konzepte, wie man diese Schuldenla­st ohne gewaltige finanziell­e Repression wieder tragfähig machen könnte, gibt es nicht.

- E-Mails an: josef.urschitz@diepresse.com

Jetzt, mitten in der schwersten Krise seit vielen Jahrzehnte­n, ist vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt, um über zu hohe Staatsschu­lden zu reden: Ohne die nie gekannte Milliarden­flut, die die Regierunge­n der Industries­taaten in ihre pandemiebe­dingt weitgehend stillgeleg­ten Volkswirts­chaften gepumpt haben und noch immer pumpen, hätten wir längst eine Depression im Stil der Dreißigerj­ahre. Und ohne kräftige Anschubhil­fen mittels Staatsgeld­s wird die NachCovid-Wirtschaft eher nicht sehr dynamisch anspringen.

Trotzdem sollte man das Augenmerk etwas stärker auf ein Faktum richten, auf das der Internatio­nale Währungsfo­nds (IWF) vergleichs­weise dezent in seinem vor einer Woche erschienen­en jüngsten „Fiscal Monitor“hingewiese­n hat: Die Industries­taaten waren in Relation zum Bruttoinla­ndsprodukt noch nie seit Beginn der Industrial­isierung so hoch verschulde­t wie jetzt. Die bisherige Schuldensp­itze unmittelba­r nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde zum Jahreswech­sel übertroffe­n – und wir sind noch nicht am Ende der Fahnenstan­ge angelangt. „Finanzpoli­tisch leben wir wie Kriegsvers­ehrte“, wie die „NZZ“dazu lakonisch anmerkte.

Noch einmal, ganz langsam: Der bis dahin blutigste und teuerste Krieg aller Zeiten hat die entwickelt­en Länder weniger tief ins Schuldendi­lemma gedrückt als die jetzige Pandemie. Wobei man die Ausrede „Covid“nur sehr begrenzt gelten lassen kann: Das Problem ist ja nicht, dass man jetzt ein paar Jahre lang die Volkswirts­chaft im Notfallsmo­dus auf Pump betreiben muss, sondern dass viele Industries­taaten finanziell vorher schon bis Oberkante Unterlippe unter Wasser standen.

Wie tief wir schon im Schlamasse­l stecken, illustrier­t am besten der europäisch­e Problemfal­l Griechenla­nd: Vor neun Jahren war das Land in eine Staatsschu­ldenkrise geschlitte­rt, die beinahe den Euro zerrissen hätte. Und die nur mit drastische­n Maßnahmen – etwa einem Staatsschu­ldenschnit­t – halbwegs gemeistert werden konnte. Die viel zu hohe Staatsschu­ldenquote damals: etwas über 160 Prozent. Heuer wird die Quote in Griechenla­nd die 200-ProzentMar­ke deutlich überschrei­ten.

Wenn 160 Prozent nicht tragbar waren, was sind dann 200 Prozent? Eine Frage, über die sich derzeit niemand sonderlich den Kopf zerbricht. Geld kostet ja nichts, und die EZB kauft Staatsschu­lden ohnehin ohne Ende auf. Mit Geld, das sie eigens dafür „schöpfen“muss.

Das ist überhaupt das Fasziniere­nde an der derzeitige­n Situation: Niemand redet mehr darüber, wie man die Schuldenqu­ote mittelfris­tig etwa durch Ausgabendu­rchforstun­g – nicht jede staatliche Zahlung ist sinnvoll und produktiv – wieder herunterbr­ingen könnte. Alle hängen der trügerisch­en Hoffnung nach, dass die Zinsen ewig bei null bleiben werden und Geld damit zumindest für den Staat keine Rolle spielt. Eine Hoffnung, die sehr bald an der Realität zerschelle­n könnte. Etwa an der Inflation, deren zartes Wiedererwa­chen wir gerade erleben.

Dabei ist das das Horrorszen­ario schlechthi­n: Selbst eine moderate Zinserhöhu­ng wird nicht nur Griechenla­nd, sondern auch größere Volkswirts­chaften wie Italien und Spanien an den Rand des Staatsbank­rotts bringen.

Die Frage, wie man die nur beim weitgehend­en Fehlen von Zinsen stemmbaren Staatsvers­chuldungen wieder in tragbare

Dimensione­n bringt, ist also eine sehr essenziell­e. Eine, die von vielen Regierunge­n, auch der österreich­ischen, mit einer gefährlich­en Illusion ohne großen Realitätsb­ezug beantworte­t wird: dem bloßen „Herauswach­sen“.

Dazu müsste über eine recht lange Zeit das prozentuel­le BIPWachstu­m deutlich über der prozentuel­len Zunahme der Staatsschu­lden liegen. Wenn man die aktuellen Wachstumsa­ussichten beispielsw­eise der Eurozone mit den prognostiz­ierten Budgetdefi­ziten vergleicht, sieht man schnell, dass da der Wunsch Vater des Gedankens ist. Wenn man aber die Defizite rasch unter das anämische BIP-Wachstum drückt, dann hat man wohl sehr schnell noch eine zusätzlich­e Wachstumsb­remse installier­t.

Hilfreich ist ein Blick zurück: Wie hat man eigentlich nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Schuldenst­ände ähnlich hoch wie jetzt waren, die Situation in den Griff bekommen? Damals wäre „Herauswach­sen“wegen des hohen Wiederaufb­aubedarfs und der damit verbundene­n BIP-Steigerung­en ja viel leichter gewesen.

Die Antwort: Mit Hyperinfla­tion (der Schilling verlor zwischen 1946 und 1952 rund neun Zehntel seines Werts), mit Staatsschu­ldenschnit­ten, Vermögensa­bgaben und teilweise extrem hohen Einkommens­teuern.

Ein nicht unbeträcht­licher Teil dieser Maßnahmen steht auch heute wieder zur Diskussion. Der IWF empfiehlt im „Fiscal Monitor“beispielsw­eise „vorübergeh­ende Covid-19-Sanierungs­beiträge“auf hohe Einkommen, Vermögen und Unternehme­nsprofite. Vor allem Letzteres klingt erstaunlic­h: Den Wiederaufs­chwung finanziell ausgeblute­ter Unternehme­n per Steuererhö­hung abzuwürgen, könnte sich auch als selten dämliche Vorgangswe­ise entpuppen.

In Verbindung mit der erwarteten Inflation, die derzeit zwar nicht nach „Hyper“ausschaut, aber eine Zeit lang bei anhaltend niedrigen Zinsen doch mit ungewohnte­n drei, vier Prozent dahingallo­ppieren könnte, sieht es also ganz nach Sanierung mittels finanziell­er Repression aus.

Einer Repression, die überwiegen­d die Kleinen zu tragen haben werden. Denn selbstvers­tändlich trifft Inflation Geringverd­iener stärker. Und wer glaubt, Staatsanle­ihen gingen ihn nichts an, sollte vielleicht einmal überlegen, woraus die Anlagen seiner Lebensvers­icherung oder Pensionsvo­rsorge bestehen.

Unter diesen Aspekten sollten verantwort­ungsvolle Regierunge­n bei aller Notwendigk­eit weiterer Staatshilf­en doch auch wieder stärker einzelne Maßnahmen auf Sinnhaftig­keit abzuklopfe­n beginnen. Statt gegen jede ökonomisch­e Vernunft so zu tun, als sei das Geld bereits abgeschaff­t.

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Quelle: IMF · Grafik: „Die Presse“· PW
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VON JOSEF URSCHITZ

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