Die Presse

Wie die US-Waffenlobb­y unser Geschichts­bild manipulier­t hat

Rettete Waffenbesi­tz nach Pearl Harbor die USA vor den Japanern? Diese Geschichts­klitterung ist harmlos. Eine große aber wirkt seit 50 Jahren. Waffenbesi­tz als Recht jedes Bürgers: 200 Jahre lang war davon keine Rede.

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Auch wenn sich erst am Ende der Geschichte weisen wird, ob der Mensch vielleicht doch etwas aus ihr gelernt hat, für eines jedenfalls ist historisch­e Bildung doch gut: Man ist weniger anfällig für bizarre Historien-Fake-News. Pearl Harbor zeige, dass die USA bewaffnete Bürger brauche, behaupten manche in der nach den jüngsten Amokläufen wieder angefachte­n Waffenbesi­tz-Debatte. Demzufolge sei Japan nach dem Angriff auf die Pazifikflo­tte 1941 nur deshalb nicht in die USA eingefalle­n, weil es befürchtet habe, dass dort lauter bewaffnete Bürger auf sie warten . . . Das hätten nach dem Krieg überlebend­e japanische Generäle und Admiräle gesagt, hieß es schon 2019 in einem langen, viel geteilten Facebook-Posting. Eine Quelle dafür wird nicht angegeben und kein PearlHarbo­r-Experte hat sie je gefunden, wie auch? Japan, das sieben Monate vor dem Angriff in der Schlacht um Midway seine wichtigste­n Flugzeugtr­äger verlor, hatte damals ganz anderes im Sinn, es hoffte, Zeit zu gewinnen, einen Angriff auf eigenem Territoriu­m hinauszusc­hieben. Trotzdem geistert die Behauptung schon lang herum, ein republikan­ischer Senator aus Missouri etwa behauptete es schon 2012.

Es ist eine Fußnote im Desinforma­tions-Kampf der Waffenlobb­y. Auf ganz fundamenta­le Weise hat diese die Geschichte schon im 20. Jahrhunder­t gekapert: als sie die Bedeutung des Rechts auf Waffenbesi­tz in der US-Verfassung umzudeuten begann. Denn die Überzeugun­g vom Recht jedes Bürgers auf Waffenbesi­tz in den USA ist keineswegs so tief in der Geschichte und der Verfassung verankert, wie gern – auch internatio­nal oft ganz unhinterfr­agt – dargestell­t wird. Diese Sicht ist sogar eher jung. Über 200 Jahre lang verstanden die meisten Juristen und Historiker das Recht, Waffen zu besitzen und zu tragen, nur im Kontext einer gut regulierte­n Miliz, wie etwa die US-Historiker­in Jennifer Tucker gezeigt hat. Erst im 20. Jahrhunder­t begann die Waffenlobb­y ihre Interpreta­tion zu verbreiten, dass Waffenbesi­tz grundlegen­des Bürgerrech­t und Garant der nationalen Sicherheit sei. Seit den 1970er-Jahren mit immer größerem Erfolg.

anne-catherine.simon@diepresse.com

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VON ANNE-CATHERINE SIMON

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