Dieses Hotel muss man buchen – als Buch
Geschichte. Im Grand Hotel Waldhaus im Engadin trafen sich die Reichen und Berühmten. In einer geheimen Gästekartei spottete man herzhaft über sie, leider auch antisemitisch. Ein famoser Bildband zeigt es, lässt uns lachen und schaudern.
Das lesen wir nicht gern: Ein „Redaktor“aus dem Kulturressort der „Neuen Freien Presse“in Wien hat bei seinem Sommerurlaub in der Schweiz „Anstoß durch ungebührliches Benehmen erregt“. So etwas ist nicht unsere Art. Freilich liegt der Fauxpas fast hundert Jahre zurück und wäre längst vergessen, hätten wir nicht diesen Eintrag aus einer Gästekartei in einem Bildband wiedergefunden. Das Quartier des Kollegen, das Grand Hotel Waldhaus im graubündnerischen Kurort Vulpera, brannte 1989 nieder. Von den Flammen verschont blieben 20.000 geheime Karteikarten von 1921 bis in die 1960er-Jahre, die der letzte Hoteldirektor, Rolf Zollinger, archiviert hatte. Nun hat er seinen Schatz, überredet vom Tiroler Fotografen Lois Hechenblaikner, im Buch „Keine Ostergrüße mehr!“ausgestellt.
Es ist ein Prachtband geworden. Er zeichnet, präzise und facettenreich, ein Gesellschaftspanorama samt Sittenbild – so erfrischend, so abgründig, dass man aus dem herzlichen Lachen und betroffenen Kopfschütteln kaum herauskommt. Wegen ein paar vergilbter Karteikarten? Der Concierge und der Chef de Reception ergänzten sie um vertrauliche Bemerkungen, um beim nächsten Besuch Wünsche und Eigenheiten des Gastes gleich parat zu haben. Die Informationen kamen auch von Zimmermädchen, Kellnern und Barkeepern. Die getippten und handschriftlichen Notate sind teils freundlich, teils rotzfrech. Sie skizzieren indische Prinzessinnen, amerikanische Industrielle, Londoner Bankiers oder afghanische Diplomaten. Es wimmelt von großen Namen: Siemens, Bosch, Sauerbruch, Stresemann, Thyssen, Heuss. Der Sänger Tauber, der Schauspieler Kortner, der Schriftsteller Dürrenmatt, Zirkusdirektor Knie. Und im Gefolge der großen Welt die demi-monde: Spioninnen, Hochstapler, Schnorrer und Zechprellerinnen – alle sind sie verewigt.
Ein Ventil für aufgestaute Wut
„Glanzgäste“gaben ordentlich Trinkgeld, wovon das Personal ja lebte, während die Touristen für (auf heute umgerechnet) 800 bis 1000 Euro pro Nacht im Luxus schwelgten. Viele betonten die soziale Kluft. Die Angestellten mussten barsche Befehle und fehlende Wertschätzung stoisch ertragen – und rächten sie auf den Karteikarten, die als Ventil für aufgestaute Wut dienten. Was für herrliche Sottisen finden sich da! „Sie: aufgeregt wie eine Wespe, Er: spinnt auf Hochtouren“, heißt es über ein französisches Paar. Eine Londonerin „hat einen großen Vogel“und „verlässt Vulpera in Tränen, weil keiner angebissen hat“. Auch ein „Großer Protz, a` la neureich“findet keinen Pardon. Und eine
New Yorkerin, deren „Spinnitis galoppierende Fortschritte macht“, „sollte wirklich nicht mehr genommen werden“. Damit fasste sie die Höchststrafe aus: den Vermerk „Keine Ostergrüße mehr!“, die Aufnahme in die schwarze Liste unerwünschter Gäste.
Wir erhaschen auch flüchtige Blicke auf fremde Biografien. Ein geheimes Liebespaar, das so lang Zimmer wechselt, bis es endlich nebeneinander wohnt, mit Verbindungstür – „abgemachte Geschichte und wir sollten es nicht wissen“. Ein Londoner Firmenchef, der dem Concierge klagt: „Ich hatte eine wundervolle Zeit, aber sie ist vorbei – morgen kommt sie und sie ist schrecklich.“Ein Mann, der täglich an der Bar eine Flasche Gin trinkt. Oder eine „sehr schwermütige“Schlafwandlerin aus Wien, „die andere Leute stört“– welche Schicksale stecken hinter diesen lakonischen Enthüllungen?
Viele Einträge lassen ihre Verfasser übel dastehen. „Sehr griechisch, sonst nett“, heißt es über einen Reeder, ein Gast aus Budapest sei „knauserig wie alle Ungarn“. Schockierend ist der Antisemitismus. Anfang der 1920er-Jahre verwendeten die Autoren noch die diskrete Chiffre „Tiroler“(weil Zillertaler Wanderhändler früher als besonders geschäftstüchtig galten, was man auch Juden nachsagte). Wenig später nimmt man sich auch in der Schweiz kein Blatt mehr vor den Mund – und notiert „frecher
Jude“oder „Stinkjude“. Aber auch hohe Nazis logierten im Hotel, vermerkt als „Judenhasser“oder „durch und durch Hitler-Anhänger“. Täter und Opfer saßen nebeneinander an der Table d’hote.ˆ Aber immer öfter kamen Ostergrüße an jüdische Gäste retour, was mit „verzogen“vermerkt wurde, oder nach den Novemberpogromen zynisch mit „1939 – parti“(abgereist). Und nach dem Krieg? Da gedieh das Ressentiment weiter, nur wieder diskret – durch den Code „P“für Palästina, gesteigert zu „PP“oder „PPP“.
So spiegelt sich im Mikrokosmos Grandhotel neben dem Zauber auch der ganze Schrecken dieser Epoche. Der Gefahr, in Voyeurismus abzugleiten, entgeht die Kulturwissenschaftlerin Andrea Kühbacher, die den Band kuratiert hat, mit dezenten Kurzporträts. Da erfährt man auch Tröstliches – wie von jenem Fürsten Schwarzenberg, der sich mit Hitler anlegte, am Park seines Wiener Palais eine Tafel mit der Aufschrift „Hier sind Juden erwünscht“anbrachte und Zuflucht in Amerika fand. Dorthin musste übrigens auch unser Ressortkollege emigrieren, er lehrte später Philosophie an einer Uni in New York. Ein Hotel, ein Jahrhundert, ein Buch – man lese, schaudere und staune.
„Keine Ostergrüße mehr!“, Edition Patrick Frey, 53 Euro. Die erste Auslage war sofort ausverkauft, der Nachdruck erscheint Mitte Mai. Vorbestellung beim Verlag möglich.