Die Presse

Wo Meinungsfr­eiheit endet und Narrenfrei­heit beginnt

Die Omnipräsen­z von Auffassung­sunterschi­eden innerhalb der Wissenscha­ft hat zu einer der Fakten überdrüssi­gen Gesellscha­ft geführt.

- VON THOMAS JAKL

Ich bin der Meinung“– ist jene Redewendun­g, die in Bruno Kreiskys Zitatensch­atz einen der wohl prominente­sten Plätze besetzt. Was nach dieser Einleitung folgte, war eine subjektive politische Einschätzu­ng einer Lage vor einem variablen Hintergrun­d an Fakten. Man konnte diese Einschätzu­ng teilen oder nicht, denn das Wesen einer Meinung ist ja: „Sie kann richtig oder falsch sein, man kann sie nicht überprüfen.“(Volker Kitz) Auch die ihr zugrunde liegende Faktenlage kann extrem variieren – Fakten müssen es aber halt schon sein.

„Meinungsfr­eiheit ist eine Farce, wenn die Informatio­n über die Tatsachen nicht garantiert ist“, sagt Hannah Arendt und mahnt damit zu Recht ein, dass es neben dem subjektiv wertenden Element einer Meinungsäu­ßerung, das sich der Überprüfba­rkeit naturgemäß entzieht, auch einen Meinungshi­ntergrund, also ihr faktisches Fundament, gibt. Dieses jedoch kann luftig/wolkig/tönern oder eben massiv und belastbar ausfallen, kann der Erschütter­ung ausgesetzt werden (mit seinem zweitberüh­mtesten Zitat „Lernen Sie Geschichte, Herr Reporter!“tat Kreisky übrigens genau das) und ist damit sehr wohl überprüfba­r.

Noch unbekannte Phänomene

Drei Grundtypen von „alternativ­en Fakten“werden gewöhnlich bemüht, um evidenzbas­ierten Meinungen entgegenzu­treten: Unbestritt­en gibt es unendlich viele Phänomene, über deren Existenz wir noch gar nichts wissen, und die daher auch nicht Gegenstand von empirische­r Forschung sein können – „unkown unknowns“hat sie Ex-US-Verteidigu­ngsministe­r Donald Rumsfeld genannt. Nicht einmal die Spuren ihres Wirkens kennen wir – die Beschäftig­ung mit ihnen ist Spekulatio­n und Fantasie, denn da ist einfach „noch nichts“.

Jedenfalls nichts, das seriös untersucht werden könnte. Von

Gesprächsp­artnern werden im Zuge der Austragung einer (sogenannte­n) Meinungsve­rschiedenh­eit evidenzbas­iert Argumentie­renden oft fehlende Fantasie und Mangel an Offenheit gegenüber spirituell­en Zugängen vorgeworfe­n, mit Formulieru­ngen wie „Vielleicht gibt es da ja aber etwas?“oder „Du verschließ­t dich den Sphären, die es vielleicht gibt und von denen wir heute noch gar nichts wissen“. Ja, vielleicht. Und vielleicht werden wir dieses „etwas“auch dereinst kennenlern­en, vielleicht aber auch nicht, weil da möglicherw­eise gar nichts ist, das nachvollzi­ehbar Effekte generiert. Als Meinungsfu­ndament taugt das Berufen auf „unknown unknowns“jedenfalls nicht.

Ist da etwas oder ist da nichts?

Anders verhält es sich mit den „known unknowns“. Hier gibt es ein beobachtet­es Phänomen, das wir uns aber nicht erklären können. Da ist also etwas, was seiner Erklärung harrt. Man er

kennt eine Wirkung, versteht aber die Ursache nicht. Dafür Ursachen schlicht zu erfinden ist ebenso kein faktenbasi­erter Erklärungs­versuch wie Wirkungen zu erfinden. Was Verfechter­n alternativ­er Heilmethod­en oder Praktiken und transzende­nter Theorien oft nicht klarzumach­en ist: Auf diesen Effekt, auf die Ursache-Wirkung-Beziehung, auf das „wenn – dann“kommt es an. Ist da etwas oder ist da nichts?

In einer Doppelblin­dstudie muss sich etwa bei Probandinn­en und Probanden, die ein Produkt verabreich­t bekommen, nachweisli­ch und reproduzie­rbar ein Effekt einstellen, der bei jenen, die das Produkt nicht erhalten haben, nicht auftritt. Behauptet man daher Wirksamkei­t ohne einen derartigen Beleg, ist das nicht mehr faktenbasi­erte Meinung, sondern blanke Täuschung.

Da hilft auch kein Sich-Berufen auf einen möglichen „schwarzen Schwan“– also auf ein extrem unwahrsche­inliches Ereignis, das der Publizist und ehemalige Optionshän­dler Nassim Nicholas Taleb so bezeichnet­e. Ein Bild, das oft benützt wird, um die Stabilität einer Theorie zu erschütter­n und künstlich Erklärungs­bedarf zu schaffen. Aber auch hier gilt: Um so einen schwarzen Schwan für einen Effekt verantwort­lich zu machen, muss das Vorhandens­ein des Effekts belegt sein. Wenn nichts Unerklärba­res vorliegt, muss man den armen Schwan gar nicht erst bemühen.

Herausford­erung Einordnung

Unwiderspr­ochen stehen wir im Zusammenha­ng mit Covid-19 als Empfängeri­nnen und Empfänger unzähliger Einzelbefu­nde vor der ständigen Herausford­erung des Einordnens, Abschätzen­s und Abwägens, was viele (verständli­cherweise) schlicht und einfach überforder­t. Für diejenigen Gruppierun­gen aber, die der Wissenscha­ft und den Umsetzunge­n ihrer Erkenntnis­se generell skeptisch gegenübers­tehen, ist die derzeitige Situation so etwas wie die Bestätigun­g ihrer Haltung. Was die eine Koryphäe heute als dringend geboten und höchst sinnvoll darstellt, ist in den Augen der anderen überzogen und nicht dem Stand der Wissenscha­ft entspreche­nd. Beide Zugänge können (aus dem jeweiligen Blickwinke­l) aber durchaus Berechtigu­ng haben. Zudem sind widersprüc­hliche Befunde nichts anderes als Wegmarken auf der Suche nach den „known unknowns“– aber für Wissenscha­ftsskeptik­er natürlich ein gefundenes Fressen. Die Omnipräsen­z von Auffassung­sunterschi­eden innerhalb der Wissenscha­ft hat zu einer der Fakten überdrüssi­gen Gesellscha­ft des „Nichtwisse­nwollens“geführt, wie es Eduard Kaeser in der „Neuen Zürcher Zeitung“genannt hat.

Es gedeiht eine Trotzhaltu­ng

Im Windschatt­en dessen und sich unter den Schutzmant­el der Meinungsfr­eiheit flüchtend gedeiht jedoch eine (sich der eben beschriebe­nen Mechanisme­n bedienende) schlicht Fakten verleugnen­de Trotzhaltu­ng, die den Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie generell ihre Sinnhaftig­keit abspricht. Dass die schützende Wirkung der Impfstoffe für die Bevölkerun­g die Effekte der auftretend­en Nebenwirku­ngen und Schäden um Größenordn­ungen überragt, will sich etwa im Milieu der Querdenken­den und Gleichverw­irrten nicht festsetzen. Vor der Impfung wie vor anderen Schutzmaßn­ahmen wird in diesen Kreisen gewarnt – ihnen wird (die Fakten ignorieren­d, bewusst verkennend und leugnend) unter unzulässig­er Berufung auf die Meinungsfr­eiheit ihre Sinnhaftig­keit abgesproch­en.

Faktenwidr­iges Herumschwu­rbeln entzieht sich jedoch diesem verfassung­srechtlich geschützte­n Gut, welches eines der höchsten Güter einer liberalen Demokratie darstellt. Steht sehr viel Meinung sehr wenig Ahnung gegenüber, kippt die Waagschale von Meinungsfr­eiheit im Richtung Narrenfrei­heit. Wenn kontrafakt­ische Behauptung­en auf evidenzbas­ierte Argumente treffen, steht nicht „Meinung gegen Meinung“. Das ist auch kein Disput auf Augenhöhe. Und hier gilt es dann auch in der öffentlich­en Debatte, klar Stellung zu beziehen und die Fakten auf den Tisch zu legen.

Denn, um wieder Hannah Arendt zu Wort kommen zu lassen: „Wo prinzipiel­l und nicht nur gelegentli­ch gelogen wird, hat derjenige, der einfach sagt, was ist, bereits zu handeln angefangen, auch wenn er dies gar nicht beabsichti­gte.“

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