Wo Meinungsfreiheit endet und Narrenfreiheit beginnt
Die Omnipräsenz von Auffassungsunterschieden innerhalb der Wissenschaft hat zu einer der Fakten überdrüssigen Gesellschaft geführt.
Ich bin der Meinung“– ist jene Redewendung, die in Bruno Kreiskys Zitatenschatz einen der wohl prominentesten Plätze besetzt. Was nach dieser Einleitung folgte, war eine subjektive politische Einschätzung einer Lage vor einem variablen Hintergrund an Fakten. Man konnte diese Einschätzung teilen oder nicht, denn das Wesen einer Meinung ist ja: „Sie kann richtig oder falsch sein, man kann sie nicht überprüfen.“(Volker Kitz) Auch die ihr zugrunde liegende Faktenlage kann extrem variieren – Fakten müssen es aber halt schon sein.
„Meinungsfreiheit ist eine Farce, wenn die Information über die Tatsachen nicht garantiert ist“, sagt Hannah Arendt und mahnt damit zu Recht ein, dass es neben dem subjektiv wertenden Element einer Meinungsäußerung, das sich der Überprüfbarkeit naturgemäß entzieht, auch einen Meinungshintergrund, also ihr faktisches Fundament, gibt. Dieses jedoch kann luftig/wolkig/tönern oder eben massiv und belastbar ausfallen, kann der Erschütterung ausgesetzt werden (mit seinem zweitberühmtesten Zitat „Lernen Sie Geschichte, Herr Reporter!“tat Kreisky übrigens genau das) und ist damit sehr wohl überprüfbar.
Noch unbekannte Phänomene
Drei Grundtypen von „alternativen Fakten“werden gewöhnlich bemüht, um evidenzbasierten Meinungen entgegenzutreten: Unbestritten gibt es unendlich viele Phänomene, über deren Existenz wir noch gar nichts wissen, und die daher auch nicht Gegenstand von empirischer Forschung sein können – „unkown unknowns“hat sie Ex-US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld genannt. Nicht einmal die Spuren ihres Wirkens kennen wir – die Beschäftigung mit ihnen ist Spekulation und Fantasie, denn da ist einfach „noch nichts“.
Jedenfalls nichts, das seriös untersucht werden könnte. Von
Gesprächspartnern werden im Zuge der Austragung einer (sogenannten) Meinungsverschiedenheit evidenzbasiert Argumentierenden oft fehlende Fantasie und Mangel an Offenheit gegenüber spirituellen Zugängen vorgeworfen, mit Formulierungen wie „Vielleicht gibt es da ja aber etwas?“oder „Du verschließt dich den Sphären, die es vielleicht gibt und von denen wir heute noch gar nichts wissen“. Ja, vielleicht. Und vielleicht werden wir dieses „etwas“auch dereinst kennenlernen, vielleicht aber auch nicht, weil da möglicherweise gar nichts ist, das nachvollziehbar Effekte generiert. Als Meinungsfundament taugt das Berufen auf „unknown unknowns“jedenfalls nicht.
Ist da etwas oder ist da nichts?
Anders verhält es sich mit den „known unknowns“. Hier gibt es ein beobachtetes Phänomen, das wir uns aber nicht erklären können. Da ist also etwas, was seiner Erklärung harrt. Man er
kennt eine Wirkung, versteht aber die Ursache nicht. Dafür Ursachen schlicht zu erfinden ist ebenso kein faktenbasierter Erklärungsversuch wie Wirkungen zu erfinden. Was Verfechtern alternativer Heilmethoden oder Praktiken und transzendenter Theorien oft nicht klarzumachen ist: Auf diesen Effekt, auf die Ursache-Wirkung-Beziehung, auf das „wenn – dann“kommt es an. Ist da etwas oder ist da nichts?
In einer Doppelblindstudie muss sich etwa bei Probandinnen und Probanden, die ein Produkt verabreicht bekommen, nachweislich und reproduzierbar ein Effekt einstellen, der bei jenen, die das Produkt nicht erhalten haben, nicht auftritt. Behauptet man daher Wirksamkeit ohne einen derartigen Beleg, ist das nicht mehr faktenbasierte Meinung, sondern blanke Täuschung.
Da hilft auch kein Sich-Berufen auf einen möglichen „schwarzen Schwan“– also auf ein extrem unwahrscheinliches Ereignis, das der Publizist und ehemalige Optionshändler Nassim Nicholas Taleb so bezeichnete. Ein Bild, das oft benützt wird, um die Stabilität einer Theorie zu erschüttern und künstlich Erklärungsbedarf zu schaffen. Aber auch hier gilt: Um so einen schwarzen Schwan für einen Effekt verantwortlich zu machen, muss das Vorhandensein des Effekts belegt sein. Wenn nichts Unerklärbares vorliegt, muss man den armen Schwan gar nicht erst bemühen.
Herausforderung Einordnung
Unwidersprochen stehen wir im Zusammenhang mit Covid-19 als Empfängerinnen und Empfänger unzähliger Einzelbefunde vor der ständigen Herausforderung des Einordnens, Abschätzens und Abwägens, was viele (verständlicherweise) schlicht und einfach überfordert. Für diejenigen Gruppierungen aber, die der Wissenschaft und den Umsetzungen ihrer Erkenntnisse generell skeptisch gegenüberstehen, ist die derzeitige Situation so etwas wie die Bestätigung ihrer Haltung. Was die eine Koryphäe heute als dringend geboten und höchst sinnvoll darstellt, ist in den Augen der anderen überzogen und nicht dem Stand der Wissenschaft entsprechend. Beide Zugänge können (aus dem jeweiligen Blickwinkel) aber durchaus Berechtigung haben. Zudem sind widersprüchliche Befunde nichts anderes als Wegmarken auf der Suche nach den „known unknowns“– aber für Wissenschaftsskeptiker natürlich ein gefundenes Fressen. Die Omnipräsenz von Auffassungsunterschieden innerhalb der Wissenschaft hat zu einer der Fakten überdrüssigen Gesellschaft des „Nichtwissenwollens“geführt, wie es Eduard Kaeser in der „Neuen Zürcher Zeitung“genannt hat.
Es gedeiht eine Trotzhaltung
Im Windschatten dessen und sich unter den Schutzmantel der Meinungsfreiheit flüchtend gedeiht jedoch eine (sich der eben beschriebenen Mechanismen bedienende) schlicht Fakten verleugnende Trotzhaltung, die den Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie generell ihre Sinnhaftigkeit abspricht. Dass die schützende Wirkung der Impfstoffe für die Bevölkerung die Effekte der auftretenden Nebenwirkungen und Schäden um Größenordnungen überragt, will sich etwa im Milieu der Querdenkenden und Gleichverwirrten nicht festsetzen. Vor der Impfung wie vor anderen Schutzmaßnahmen wird in diesen Kreisen gewarnt – ihnen wird (die Fakten ignorierend, bewusst verkennend und leugnend) unter unzulässiger Berufung auf die Meinungsfreiheit ihre Sinnhaftigkeit abgesprochen.
Faktenwidriges Herumschwurbeln entzieht sich jedoch diesem verfassungsrechtlich geschützten Gut, welches eines der höchsten Güter einer liberalen Demokratie darstellt. Steht sehr viel Meinung sehr wenig Ahnung gegenüber, kippt die Waagschale von Meinungsfreiheit im Richtung Narrenfreiheit. Wenn kontrafaktische Behauptungen auf evidenzbasierte Argumente treffen, steht nicht „Meinung gegen Meinung“. Das ist auch kein Disput auf Augenhöhe. Und hier gilt es dann auch in der öffentlichen Debatte, klar Stellung zu beziehen und die Fakten auf den Tisch zu legen.
Denn, um wieder Hannah Arendt zu Wort kommen zu lassen: „Wo prinzipiell und nicht nur gelegentlich gelogen wird, hat derjenige, der einfach sagt, was ist, bereits zu handeln angefangen, auch wenn er dies gar nicht beabsichtigte.“